CD Kritik Progressive Newsletter Nr.48 (04/2004)
Canturbe - El vuelo de los olvidados
(41:18, Viajero Inmovil, 1980)
Was würde die Progszene bloß ohne ihre ganzen aufopferungsvollen Idealisten machen? So durchforstet z.B. seit einigen Jahren das argentinische Label Viajero Inmovil die heimische Szene nach allen möglichen und unmöglichen Veröffentlichungen, bringt Kleinodien der Vergangenheit zum ersten mal auf CD heraus, wendet sich aber auch hin und wieder aktuelleren Bands zu - siehe die weiter hinten noch folgenden Hyacintus. Mit dem Album "El vuelo de los olvidados" der Formation Canturbe geht die Reise jedoch zuerst einmal wieder zurück in die Vergangenheit. Obwohl das Album aus dem Jahre 1980 stammt, weht hier in Sound und Struktur eindeutig der wache, agile Geist der 70er. Bei der ursprünglichen Veröffentlichung hatte die Band noch mit der Zensur der damaligen argentinischen Militärdiktatur zu kämpfen. Zugleich sorgte ironischerweise gerade der Falklandkrieg dafür, dass englischsprachige Musik in Argentinien komplett aus den Medien verschwand, wodurch spanischsprachige Scheiben wie diese, auf einmal wesentlich mehr Aufmerksamkeit bekamen. Musikalisch bewegen sich Canturbe zwischen melancholischen, leicht süßlichen Folksongs, sowie gelegentlichen Progressive Rock Ausbrüchen, die sich vor allem auf die sinfonische, verspielte Seite schlagen. Die Grundstimmung der Scheibe ist eher trauriger Natur, nur sehr wenig ist von südamerikanischer Leichtigkeit oder Lebenslust zu vernehmen, vielmehr scheint hier der musikalischer Herbst inspirativ zu wirken. Die zum Teil sehr intimen, zurückgenommen Kompositionen entfalten dennoch bei genauem Hinhören ihre volle Schönheit, ohne aufdringlich zu sein. Hin und wieder sorgen leicht jazzige Gitarrenfiguren, aber auch sinfonische Synthieklänge für lustvolle Auflockerung. Die Musik von Canturbe ist kein Feuerwerk der Ideen, wartet nicht mit erschlagender Komplexität oder Bombast auf, es sind vielmehr die ruhigen, aber fein erdachten Zwischentöne, die den Reiz dieses grundsätzlich eher ruhigen Albums ausmachen. Einzig Ausnahme ist das über 8 Minuten lange "En virtud del obcecado", welches recht komplex und virtuos eine ganz andere Facette der Argentinier präsentiert. Hat man eine Faible für traurige Melodien, spanischsprachigen Gesang und einer sanften, dennoch emotionalen Mischung aus Folk und Prog, dann findet man an diesem Album durchaus Gefallen. Leider dürfte Canturbe jedoch wohl das gleiche Schicksal wie vielen anderen Scheiben des Labels beschieden sein. Trotz toller Aufmachung mit aufklappbaren Mini LP Cover und ausführlichen Line Notes, ist dieses Album wohl vor allem etwas für den Südamerika Sammler. Eigentlich schade, denn aufgrund der gebotenen Qualität hätte dieses Werk sicherlich etwas mehr Aufmerksamkeit verdient.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2004