CD Kritik Progressive Newsletter Nr.46 (10/2003)
The Mars Volta - De-loused in the comatorium
(60:53, Universal Records, 2003)
Können zwei Musiker, die ursprünglich im Hardcore tätig war, ein ansprechendes Konzeptalbum zusammenzimmern? Kann eine CD fast ohne Keyboards denn überhaupt proggy sein? Und was kommt überhaupt dabei heraus, wenn auch noch Flea, der hervorragende Bassist der Red Hot Chili Peppers, sein Finger mit im Spiel hat, als Produzent Rick Rubin fungiert, der schon mit Künstlern von Johnny Cash bis zu System of A Down zusammenarbeite? Um es kurz zu machen: "De-loused in the comatorium" ist ein mitreißendes Konzeptalbum und bei wem Prog nicht nur 70er Retro Ausrichtung bedeutet, der bekommt hier ein im wahrsten Sinne des Wortes progressives Rockalbum des neuen Jahrtausends um die Ohren geblasen. Besten Dank an dieser Stelle übrigens auch an die Kollegen von den Babyblauen Seiten (www.babyblaue-seiten.de) durch die meine Aufmerksamkeit auf dieses Album überhaupt gelenkt wurde. Bei The Mars Volta findet mal viel Bekanntes wieder, das Ganze ist aber auf solch formidable Weise neu zusammengemischt, dass man nicht nur überfahren, sondern regelrecht mitgerissen wird. Zum einen lebt "De-loused in the comatorium" sehr von krassen Dynamikwechseln, von einer unbändigen, sehr direkten Kraft und Power, die in den wenigen ruhigen Momenten den Hörer jedoch immer wieder zur Besinnung kommen lässt. Auch wenn die Wurzeln der Musiker deutlich in moderneren Rockbereichen, in einer ziemlich überdrehten Interpretation Version von Alternative / Indie Rock mit allen Nuancen liegen (gerade der extreme Gesang wirkt wie eine Reminiszenz an Muse), besonders die recht dreckig gespielten Gitarren das Sagen haben, so bekommt man dennoch einiges zu hören, das für progressive Ohren sorgsam bekannt klingt. Da geht es mal technisch, wie bei den moderneren King Crimson zu, da gibt es gefühlvolle Passagen, die deutlich aus den 70ern stammen, Latin Rhythmen sorgen für Schwung, da werden gewagte Soundcollagen zusammengefügt, die abseits der "normalen" Hörgewohnheiten liegen. Ebenso findet man hier psychedelische, stellenweise fast schon jazzige Momente wieder oder die Band holpert gewollt schräge und sperrig durch die Takte, ganz so wie man es bisher eigentlich nur von "reinen" Prog Alben her kannte. Gerade der überhöhte Breakfaktor und die mannigfaltigen Stilwechsel, die aber dennoch immer logisch und keineswegs zufällig wirken, machen dieses Album zu einem kurzweiligen, immer wieder überraschenden Ritt durch alle Stile. The Mars Volta spielen hier mit dem ganzen Kaleidoskop, welches die Rockmusik in den letzten 30 Jahren hat entstehen lassen, dennoch gibt es in der Gesamtheit nichts Vergleichbares. Die Amerikaner gehören zu denen Bands, die sich wohl durchdacht in der Vergangenheit bedienen, aber genügend moderne Einflüsse hinzunehmen, um nicht im Retro-Sumpf zu versacken. Wer auf die altbekannten Prog Klischees verzichten kann, erhält hier den modernen Prog der Neuzeit.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2003