CD Kritik Progressive Newsletter Nr.46 (10/2003)

Keith Emerson And The Nice - Vivacitas
(52:03 + 46:32, Sanctuary, 2003)

Es kam schon ein handfesten Überraschung gleich, als letztes Jahr die Nachricht durchsickerte, dass Keith Emerson, Lee Jackson und Brian Davison The Nice wiederbeleben wollen. Trotz ihrer relativ kurzen Existenz Ende der 60er galten und gelten The Nice als eine der Urväter der Verbindung bzw. Adaption von Klassik und Rock. Ihnen gelang es diese beiden bis dahin so verschiedenen und gegensätzlichen Spielarten erfolgreich zu verschmelzen und somit den Boden für die spätere Experimente von z.B. Emerson Lake & Palmer zu ebnen. Aus der Reunion letztes Jahr wurde eine kleine, vier Städte umfassende Tour auf der britischen Insel, die diesen Herbst wesentlich ausgiebiger fortgesetzt wird. Als Gitarristen holte man sich zudem den in Progkreisen nicht unbekannte Dave Kilminster (u.a. Qango, John Wetton) hinzu. Ein genauer Blick aufs Cover offenbart, was man auf dieser Tour, sowie den jetzt vorliegenden Livemitschnitt zu erwarten hat. Keith Emerson And The Nice steht dort, im Hintergrund prangt ein großes "E" aus dem ELP Logo. In Wirklichkeit handelt es sich mehr um einen Überblick über Keith Emersons Schaffenswerk, bei denen The Nice durchaus eine wichtige Rolle spielen. So teilen sich die 3 CDs folgendermaßen auf: CD 1 ist dem Material von The Nice gewidmet, auf CD 2 gibt es Solomaterial von Keith Emerson, sowie ELP Stücke. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Adaptionen und nur mit "Tarkus" einer Ur-ELP Komposition, bei denen Emerson Kilminster, Phil Williams am Bass und Pete Riley am Schlagzeug begleiten. CD 3 beschließt die Sammlung mit einem kurzweiligen, humorigen, mit sehr viel Anekdoten durchzogenen über 20-minütigen Interview mit Emerson, Jackson, Davison. Mit Reunions ist das ja immer so eine Sache. Geht es nur um das schnelle Geld oder den Spaß nochmals zusammen zu spielen oder steckt auch ein musikalischer Anspruch dahinter? Bei der Wiederbelebung von The Nice, sowie der Betrachtung dieses Livedokuments fällt die Beurteilung zwiespältig aus. Spieltechnisch haben es die drei zweifellos noch drauf. Durch moderne Sounds (bei den Keyboards kommt nicht nur die Orgel zum Einsatz), teils Neuarrangements und verstärkten Gitarreneinsatz (am deutlichsten im jazzigen Mittelteil von "Hang on to a dream" und einem neuen Part innerhalb der "Karelia Suite" zu vernehmen) bekommen die Songs einen anderen, zwar nicht immer passenden, aber über weite Strecken interessanten neuen Anstrich verliehen. Als fast kompletter Totalausfall muss dafür der Gesang von Lee Jackson durchgehen, der ja noch nie ein Gigant hinter dem Mikrofon war. Über die Jahre hat sein gedrungenes Geröchel und Genuschel nicht gerade an Klasse dazu gewonnen, als Bassist bietet er jedoch immer noch eine solide Leistung. Insgesamt eine kurzweilige Perfomance, über der aber an manchen Stellen der schwere Schatten von gepflegten, gut gemachten Altherrenrock liegt, auch wenn die Protagonisten immer noch Könner an ihren Instrumenten sind. Die zweite CD präsentiert nach zwei Emerson Solonummern, dann die Wiederbelebung von ELP Material, in zum Teil mainstreamigeren Format. Bei "Tarkus" wird dabei fast gänzlich auf Gesang verzichtet, "Hoedown" bekommt einen Mundharmonika Mittelteil verpasst und auch "Fanfare for the common man" klingt glattgebügelter und weniger virtuos als im Original. Für diese CD gilt: nicht unbedingt essentiell, aber dennoch gut und brauchbar altes Material neu sortiert. Der letzte Funke will aber irgendwie nicht vollständig überspringen. Im Konzertsaal entwickeln diese Interpretationen sicherlich eine ganze andere Magie. Im Gesamteindruck geht "Vivacitas" als nostalgisches Zeitdokument mit neuem Anstrich durch, das doch wohl eher The Nice und ELP Fans und Sammler ansprechen wird.

Kristian Selm



© Progressive Newsletter 2003