CD Kritik Progressive Newsletter Nr.40 (06/2002)
Motor Totemist Guild - All America City
(76:54, Independent Records, 2001)
Die abstrakte Welt von Motor Totemist Guild ist ein Ameisenhaufen kleinster und seltsamster Melodien. Ein geordnetes, logisches Gebäude, das keine unnütze Räume kennt und doch nicht leicht zu verstehen ist. Heute sind Motor Totemist Guild eine Sammlung von Musikern um den Avantgardisten James Grigsby, der die Band in verschiedenen stilistischen Feldern arbeiten lässt. Ähnlich wie bei der einstigen Schwesterband 5uuïs, hier wie dort durch die Schlagzeugarbeit von Dave Kerman lebendig untermauert, hat sich das Bandprojekt über die Jahre stark geändert und spezialisiert. Andere Alben wie "Shapuno Zoo", "Infra dig" oder "City of mirrors" haben wenig Vergleich zu "All American City". Das Sideproject U Totem, ein Konglomerat von Motor Totemist Guild und 5uuïs, scheint es nicht mehr zu geben. Schade, denn dieses Projekt hatte im Avant Prog Rock ("U Totem", "Strange attractors") ein ambitioniertes Feld beackert. Auch 5uuïs wussten ihre Arbeit sehr gut zu präsentieren. Vor allem ihr Meisterwerk "Hungerïs teeth", dessen abstrakter Rock-Kosmos von durchdachter Integrität und erhabener Schönheit war, aber auch die weiteren 4 Alben sind grandiose Beispiele für fabelhaften Avant Prog Rock. Aus dem Dunstkreis von 5uuïs entstand die Krönung der heutigen ausdrucksstarken Rockmusik, Thinking Plague. Doch zurück zu Motor Totemist Guild und "All American City". Die Musik ist der Soundtrack zu dem gleichnamigen Film von Yu Gakusei. Mit Rockmusik hatten Motor Totemist Guild (außer in den weiteren Projekten / Bands) nie viel zu tun. "All American City" könnte den davon am weitesten entfernten Punkt markieren. Weitgehend werden die 23 Stücke von Computertönen bestimmt, unterstützt durch das seltene Schlagzeug von Dave Kerman, Piano (Bridget Convey), akustische Gitarre (Rod Poole), Kontrabass (Hannes Giger) und "The Unwitting Accomplices" - 6 Musikern (sax, feedback, air & water, sardar, voice, sketchbook) als Gäste. James Grigsby bedient Computer, Sampler und Diverses. "All American City" ist ein Hörwerk. Weniger wegen der Melodien, weniger wegen der steten Wechsel oder musikalischen (Un-)Logik, sondern wegen des amelodischen, abstrakten Gesamteindruckes. Da fallen Steine in Wasser, wispern Stimmen, fahren Hände durch die Luft, schwellen Töne wie zu einem Erdbeben an, Instrumente finden seltsam schräge Töne, eine disharmonische Fuge klafft zur gesichtslosen Lücke auf, Töne schwellen an und jaulen, bis plötzlich der Computer wieder diese seltsamen Melodien ausstößt, ohne rhythmischen Akzent, schier leblos. Es gibt keinen Gruppenklang oder eine Homogenität, keine Musik im näheren Sinne, sondern eine tonale und atonale Tonfolge, die aus seltsam gesichtslosen Melodien, strukturlahmen Wirrnissen und äußerst kühlen Arrangements besteht. Motor Totemist Guild haben sich so weit von melodisch nachvollziehbarer Musik entfernt, dass "All American City" nur noch den Verlust des musischen "Körpers" beschreit. Zwar ist dieser Parforceritt - neben seiner Intellektualität - ein Radikalschnitt durch vielerlei Vorstellungen freier Musik, dabei aber nicht mitreißend, sondern zäh, unbewegt, kalt. Daneben jedoch hat es einen fast unmerkbaren Reiz. Die "wirklichen" Instrumente Cello, akustische Gitarre und Piano entwerfen hier und da Töne mit radikaler Spielweise, die nicht unbedingt aus der ersten Natur des Instrumentes kommen, aber sehr interessant und tonal klingen. Das instrumentale Hörspiel erweist sich als mutiger Künstler, der über den Abhang populärer Musik hinweggeht und die vergewaltigte, narbige Landschaft der Musik offenbart. Ist "All American City" ein moralisches Album, weil es Hörer, Vorstellungen und Musiker vorführt? Zumindest gibt es die Frage auf, ob es wirklich keine Musik ist. Doch das ist es. Hier urplötzlich Jazz, dort eine atonale, aber beeindruckend klare, übereinandergestülpte Instrumentalorgie von selbstvergessenen Tönen, von denen ein jeder tut, was er will. Mal nur Pianokliffe, die in die Leere gähnen, gefegter, gebürsteter, gestreichelter Kontrabass, der schließlich drei wirkliche Töne von sich gibt. Die Musik hat eine melancholische Dimension, für einen Film scheinen die 22 Skizzen und der 27minütige Longtrack jedoch wieder zu laut, vordergründig und bestimmend zu sein. Es sei denn, er ist ein pantomimischer Horrorfilm von besonders harter Natur, oder die schrägste Komödie.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2002