CD Kritik Progressive Newsletter Nr.39 (03/2002)
Bi Kyo Ran - Anthology Vol.1
(62:05, Gohan Records, 2002)
Es hat ja schon als Schreiberling seine Vorteile, dass man oftmals CD bereits vor dem offiziellen Veröffentlichungsdatum zu Gehör bekommt. Und ob billiger Pappschuber oder sparsame Jewelcase Verpackung, völlig egal, schließlich kommt es ja auf die Musik an. Doch wenn sich dann auf dem Vorabexemplar nur Ausschnitte im MP3-Format der jeweiligen Veröffentlichung befinden, wird die Sache schon recht kompliziert, denn wie soll man anhand eines teilweisen Eindrucks eine Kritik schreiben, wenn einem das Label quasi vorschreibt, welche Stücke man zu beurteilen hat? Na ja, egal, so liegen mir eben nur vier der acht Stücke von Bi Kyo Rans "Anthology Vol.1" vor. Doch die haben es bereits in sich. Wer aufmerksam unsere Schmonzette liest bzw. sich etwas in den Weiten des fernen Orients auskennt, für den wird der Name Bi Kyo Ran kein Neuland sein. Die Band fing ursprünglich vor vielen Jahren mal als King Crimson Coverband an, um sich später in eigenes, nicht weniger anspruchsvolles und vielschichtiges Terrain vorzuwagen. Dabei ist aber immer noch der King Crimson Einfluss ab und zu, zu hören. Hinter dieser Ausgabe von Bi Kyo Ran stecken vor allem Kunio Suma (Gitarre, Bass, Mellotron, Gesang) und Masaharu Sato (Schlagzeug), die in der Frühphase das Bandgeschehen bestimmten. Die Japaner sind definitiv kein leichter Stoff, man muss schon einiges vertragen können bzw. wollen, um ihren kraftvollen, komplexen Art Rock "ertragen" zu können. Doch wer sich darauf einlassen kann, bekommt dafür fantastische Musik geboten, die voller Wucht, abstruser Wandlungen und verqueren Ideen steckt. Trotz aller sprunghaften Wendungen, schwanken die Kompositionen zwischen zwei Polen: unheimliche Power, bei dem vor allem der knarzende Bass und das expressive Schlagzeug als treibende Kraft fungieren oder zerbrechlich Ruhe mit klassischem Unterbau und sanfter Mellotronuntermalung. Cello, Violine und Horn sorgen für den klassischen Gegenpart, womit Bi Kyo Ran dem Hörer eine ungeahnte Klangdichte bescheren. Wer an dieser Stelle immer noch nicht abgeschreckt ist, dem sei noch hinzugefügt, dass man zudem gelegentlich noch sehr aparten japanischen Gesang als kostenlose Dreingabe dazugeliefert bekommt. Aber nicht dieses eunuchenhafte Kreischen, sondern für unsere Ohren leicht schräge, aber bestens zum Gesamteindruck passende Einlagen. Doch über weite Strecken haben die Instrumente das Sagen. Die rein japanischen Titel mit in der englischen Übersetzung so schönen Titeln wie "Edelweiss", "Anti-grounded Kokuzo" oder "Unfinished quartet" schlagen gekonnt die Brücken zwischen den zugegeben sehr komplexen Ursprüngen des 70er Progressive Rock und zeitgenössischer Moderne. Immer wieder gibt es Momente aus der R.I.O. (Rock in Opposition) Bewegung, die durch Bands wie Univers Zéro ihren Beginn fanden, besinnliche Momente und Ruhe wechseln hin zu Härte und starkem Ausdruck. Mitnichten ein einfaches Album, aber dafür umso beeindruckender, da trotz aller Versponnenheit nie die Quintessenz, die innere Steigerung der Kompositionen verloren geht. Ein kleines Meisterwerk der etwas ganz anderen Seite des Progressive Rocks. Bleibt nur zu hoffen, dass die restlichen vier Titel dieses Niveau halten können und man in Europa zu einem erschwinglichen Preis an diese CD herankommt.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 2002