CD Kritik Progressive Newsletter Nr.35 (05/2001)
Niemen - Enigmatic
(36:20, Polskie Nagrania, 1971)
Nachdem an dieser Stelle regelmäßig polnische Bands wie Quidam, Abraxas, Collage oder Ankh vorgestellt werden, nehme ich den 62. Geburtstag des polnischen Rock-Altvaters Czeslaw Niemen mal zum Anlass, um einen Meilenstein polnischer Rockmusik zu würdigen. Niemens schillernde Karriere begann nach einem Musikstudium in Danzig Mitte der 60er Jahre in der Beatband Niebiesko Czarni (Blau & Schwarz), die mit "Naga 1" u.a. auch eine Rock-Oper kreierten. Danach orientierte er sich stärker Richtung Rhythm'n Blues mit fetter Orgel, vielen Bläsern und Background-Chören. Mit der grandiosen Hippie-Hymne "Dziwny jest ten swiat" (Diese Welt ist verrückt) stieg er Ende der 60er Jahre zum nationalen Pop-Idol auf. Aus der sich anschließenden "progressiven" Phase stammt auch das Album "Enigmatic", das ich beim letzten Verwandtschaftsbesuch in Oberschlesien erwarb. Weiterhin bewies Niemen seine Vielfältigkeit durch Aufnahmen in den Bereichen Jazz-Rock, russische Folklore bis hin zur Elektronik. Auch mit den drei Musikern von SBB arbeitete er auf einigen Alben zusammen. Auf dem Cover von "Enigmatic" haut der Meister im Stile von Emerson in seine kerzenverzierte Hammond. Das Konzept des Albums besteht im wesentlichen darin, Gedichte renommierter polnischer Poeten zu vertonen. Eingeleitet wird "Enigmatic" durch das knapp siebzehnminütige, elegische "Bema pamieci zalobny - Rapsod" (Traurige Rhapsodie in Gedenken an General Bem), mit glockenähnlichen Orgelakkorden, russisch orthodoxen Männerchören und choralartigen Orgelschleifen. Diese Männerchöre hat die deutsche Gruppe Jane auf ihrem Opus "Heaven and hell" übrigens dreisterweise 1:1 abgekupfert. Nachdem über Orgelcluster und Percussion eine bedrohliche Spannung aufgebaut wird, entlädt sich dieselbe in einem kurzen A-capella-Klagegesang, der in eine wunderschöne, orgeldominierte Melodie übergeht. Besonders an dieser Stelle werden Ähnlichkeiten zu den frühen Procol Harum deutlich. Das Stück gipfelt in einem bombastischen Finale, wieder mit Männerchören sowie Niemens sehnsüchtig flehender Stimme. Diese modulationsreiche, oft mit Ray Charles verglichene Stimme macht auch die Einzigartigkeit von Niemen aus. Im damaligen Ostblock besaß Niemen Kultstatus und manche Sänger, etwa aus der DDR, orientierten sich in ihrer Phrasierung deutlich an Niemen (man höre z.B. die 10minütige Suite "Tritt ein in den Dom" der Dresdner Band Electra). Die übrigen drei Stücke von "Enigmatic", "Jednego serca" (Ein Herz allein), "Kwiaty ojczyste" (Blumen meines Landes) sowie "Maw do mnie jeszcze" (Sprich noch mal zu mir) orientieren sich demgegenüber eher an Rhythm'n Blues und Soul, mitunter wird auch sehr jazzmäßig mit Alt- und Tenorsaxophon improvisiert. Schließlich waren renommierte polnische Jazzer wie Michal Urbaniak und Zbigniew Namyslowski an den Aufnahmen beteiligt. Die allgegenwärtige Melancholie, überlange Songformate, bombastische Frauenchöre und sakrale Orgelschnörkel verleihen dennoch auch diesen Stücken einen reichlich progressiven Touch. Zudem gelingt Niemen eine kongeniale Vertonung der schwermütigen polnischen Gedichte, z.B. in "Jednego Serca": zunächst einige einsame, bluesige Orgelakkorde, dann setzt Niemens verzweifelt klingende, hallunterlegte Stimme ein: "Jednego serca - tak malo, tak malo! Jednejo serca - trzeba mi na ziemi!" (Ein Herz allein - so wenig, so wenig!, Ein Herz allein - brauche ich auf dieser Welt!, Danke für die Übersetzung Oma!). Fazit: wer mit slawischer Melancholie, Hammond-Orgelei und ausdrucksstarken Stimmen etwas anfangen kann, wird an dieser CD seine helle Freude haben.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2001