CD Kritik Progressive Newsletter Nr.33 (12/2000)

Godspeed You Black Emperor! - Lift yr. skinny fists like antennas to heaven!
(45:12 + 42:19, Southern Records, 2000)

So kann's gehen im Leben. Normalerweise kann ich mich ja immer als pseudomäßiger Wichtigtuer aufspielen ("Ey, kennst Du schon die Scheibe von ..., ich habe bereits ein Vorabpromo und die CD ist ja so was von gnadenlos, schade, dass Du sie erst in zwei Monaten hören darfst!"), aber bei dieser Doppel CD wurde dieses Spiel einfach umgedreht. Von diversen Leuten wurde mir vorgeschwärmt, wie toll doch die aktuelle Scheibe der kanadischen Formation Godspeed You Black Emperor! sei. Allen voran, war es latürnich Marcus Wicker alias Wickerman alias Mr.Forbidden Planet, der mir noch zwei Tage vor Redaktionsschluss, nach einem geradezu mundwässrigmachenden Telefonanruf, die CD schnell brennen und zukommen ließ. An dieser Stelle noch besten Dank an Marcus, ansonsten wäre wohl diese Besprechung erst im nächsten Heft gelandet. Doch genug des Vorwortes, jetzt mal zu den Fakten, Fakten, Fakten. Der erste Eindruck, nämlich die Anzahl der Songs - gerade mal lächerliche vier auf zwei Rundlingen, in Zahlen: 4! - treibt jedem Longsongfetischisten die Tränen in die Augen. Doch es kommt noch besser. Die Musik der Band aus Montreal ist eine auf den ersten Höreindruck geradezu unbeschreibliche Mischung aus Dynamik, Spannung, Atmosphäre und Minimalismus - eindringliche Monotonie und langsame Songentwicklung bekommen hier eine ganz neue Aussage. Sicherlich gibt es auch bei so relativ langen Songs immer wieder mal Leerlauf, doch zum Großteil stimmt die sorgsame Zusammenstellung. Sei es nun eine einfache Pianolinie, das sachte Spiel mit Geigen oder einfach nur vorantreibende Klangkaskaden aus Gitarre und Schlagzeug - diese wirklich einmalige Mischung fesselt und übt eine eigenartige eindringliche Faszination aus - und dass bei einer Band, die zudem auch ohne jeglichen Gesang auskommt. Doch wohin stopft man nun im allseits beliebten Schubladendenken dieses erschlagende Mammutwerk? Hier und da sind Einflüsse aus dem Krautrock, der elektronischen Musik teutonischen Ursprungs wie z.B. frühe Tangerine Dream erkennbar, die Dynamiksprünge erinnern zuweilen an King Crimson Anfang der 70er, gnadenlose Spannungssteigerung wecken Erinnerungen an Magma oder auch frühe Pink Floyd, minimalistisches Klaviergeklimper kommt in seiner Traurigkeit Devil Doll näher - doch irgendwie klingt alles zusammen doch noch irgendwie unverwechselbar eigenständig. Neben einigen Einspielungen und Loops, kommt die Band neben gekonnt eingesetzter Geigenmelancholie ausschließlich mit "normalem" Rockinstrumentarium aus, ohne dass sich dabei die fehlenden Keyboards irgendwie negativ bemerkbar machen. "Lift yr. skinny fists like antennas to heaven!" ist sicherlich kein "reinrassiges" Prog Album, doch man hört hier viele Merkmale, die man von anderen Bands der Vergangenheit und Gegenwart aus dem Prog bzw. angrenzenden Genres kennt. Auf diesem Werk verschwimmt vieles zu einem ganz neuen Erlebnis und so hat die Musik trotz teilweise sehr spartanischer Arrangements erstaunlich viel Gehalt, obwohl man sich schon sehr intensiv mit ihr beschäftigen muss. Ein Meisterwerk, das es zu entdecken gilt.

Kristian Selm



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