CD Kritik Progressive Newsletter Nr.29 (03/2000)
Neil Sadler - Theory of forms
(55:41, Bleeding Arts, 1999)
Bei Stefan Zweig heißen die herausragenden Erlebnisse und Erfahrungen der Menschheit Sternstunden der Menschheit. Ich will nicht so anmaßend sein und mich mit Stefan Zweig vergleichen, aber meine (musikalischen) Highlights nenne ich die Grandezza des Rock und Jazz. Hier eine Grandezza. Neil Sadler, meine Hochachtung. Zuerst, Neil Sadler ist Keyboarder und Percussionist. Und keines dieser Instrumente steht besonders im Vordergrund. Der Mann weiß seine traumhaften Kompositionen in ein Gewand zu kleiden, dass ihm nicht unbedingt die erste Rolle zuteilt. Neil weiß den Ausdruck der verschiedenen, nicht von ihm selbst gespielten Instrumente zu nutzen, um seine Vorstellung von Musik umzusetzen. Das unterscheidet ihn von Zappa. Was ihn mit Zappa vergleichen lässt, ist die stilistische Ähnlichkeit und der instrumentale Charakter. Und: die Mitstreiter. Die drei Fowler Brüder Walt (tp, fl-h), Steve (as) und Bruce (tb), Alber Wing (ts), Kurt McGettrick (ts) und Mike Keneally (g) waren bei Zappa. Am Bass steht in drei Songs Bryan Beller, der Keneallys Partner in music ist. Nur Joel Woods, Bassmann in drei anderen Songs, ist mir bisher völlig unbekannt. Die sieben Stücke der CD sind keine Songs. Es sind kleine Jazzrock Werke. Bei fünf Leuten an den Blasinstrumenten ist klar, wovon die Tracks dominiert werden. Aber auch Keneally weiß sich heftig und schräg mit grandiosen Soli in den Vordergrund zu stellen. Bass und Schlagzeug stehen mitten im Rock, die bestimmenden Instrumente mitten im Jazz. Erst wenn die komplette Band unisono die rhythmischen Figuren betont, ist der Rockeinfluss stärker. Keneally spielt härter und ausführlicher als in seinen eigenen (hervorragenden) Platten. Die Fowler Brothers sind nach Zappa jazzversierter geworden als je zuvor. So gibt es eine spannende Auseinandersetzung innerhalb dieser enorm grandiosen Kompositionen. In den lyrischen Momenten weben die Trompeten und Saxophone stärker solistisch, bis die Keneallysche Gitarre alles umwirft und den Jazz zu einem plötzlich einbrechenden Avantgarde Rock verändert. Jedes Stück dieses Werkes kann nur als Grandezza bezeichnet werden, besser kann ich mir heutigen Jazzrock in dieser Intension nicht vorstellen.
Volkmar Mantei
© Progressive Newsletter 2000