CD Kritik Progressive Newsletter Nr.27 (09/1999)

Jethro Tull - J-tull Dot Com
(60:30, Roadrunner, 1999)

Ohne jeden Zweifel - Ian Anderson ist der Mann an der Flöte. Jede andere Flöte in der Rockmusik muss sich an seinem Spiel messen (und schneidet zumeist schlechter ab). Andersons Band Jethro Tull hat Höhen und Tiefen erlebt, 20-, 25- und sogar 30- jährige Jubiläen gut überstanden, nun melden sie sich wieder mit neuem, deutlich Folk und Prog betonendem Material zurück - die Aufarbeitung der Vergangenheit einerseits (diverse Retrospektiven und Wiederveröffentlichungen zu den Jubiläen und der Raritätensammlung "The nightcap") und der musikalischen Ursprünge und Wurzeln andererseits ("Roots to branches" war ein eindeutig bluesiges Album, "Rock island" davor ein - wie der Name schon sagt - rockiges Album) scheint abgeschlossen. Nun ist Jethro Tull wieder da, wo sie immer waren, wenn sie nicht gerade sich selbst neu erfinden wollten - auf halbem Wege zwischen Folk und Prog. Um es also vorwegzunehmen, es ist ein typisches Jethro Tull Album - viel Flöte, überhaupt viel Akustisches (Akkordeon!), wie immer exquisite Musiker: Neben Ian Anderson an diversen Flöten, akustischer Gitarre und Bouzouki (!) spielen der unverwüstliche Martin Barre an den Saiten, Andrew Giddings an den Tasten, der bewährte Drummer Duane Perry und Neumitglied Jonathan Noyce. Dazu Andersons zeitkritische und wie immer bissigen Texte. Dieses Mal nimmt er sich Zeit, um einige neue Phänomene der heutigen Zeit zu reflektieren, allen voran das Internet (s. Titel) und generell die Globalisierung, aber auch des Journalisten liebstes (Wetter-)Kind "El niño". Weitere Highlights sind das Titelstück "Dot Com" (ein Duett mit der englisch-indischen Sängerin Najma Akhtar) und der Opener "Spiral" - aber auch die anderen Stücke klingen gut, keines ragt da weit heraus - ein homogenes Album. Richtig neugierig macht allerdings das Hidden Track am Ende des letzten Stücks auf der CD: Mit brav vorgetragener Ansage stellt Ian Anderson das Titelstück seines demnächst erscheinenden Solo-Werks "The secret language of birds" vor - und landet damit prompt das Highlight des Albums. Niemand wird erwarten können, dass sich nach so langer Zeit noch revolutionär Neues in der Musik Jethro Tulls finden lässt, es ist dennoch ein vorzügliches Album und reiht sich problemlos in die vielen guten Produktionen dieser Formation ein, auch wenn es bestimmt nicht "Aqualung II" ist (und wie sollte man auch so etwas zustande bringen). In dieser Form können Anderson & Co. Noch das 40jährige Jubiläum erleben.

Sal Pichireddu



© Progressive Newsletter 1999