CD Kritik Progressive Newsletter Nr.26 (07/1999)

Liquid Tension Experiment - 2
(73:59, Magna Carta 1999)

Es muss irgendwie einen Anfang genommen haben. Bevor die Musik da war. Haben die Urmenschen schon gesungen oder mit ihren Geräten rhythmische Figuren getrommelt? Die Jahrhunderte haben geniale Klassiker zu Werken inspiriert, deren wir uns ohne Ende bedienen können. Und es gibt noch immer Menschen, die dazu fähig sind, mitten in diesem übervollen Sein, zu Musik, eigener Musik zu finden. Das Liquid Tension Experiment ist eine fabelhafte Band, voller Witz, Überschwang, Sinn, Ausdruck und Verstand. Was als Projekt begann, um aus den eingefahrenen Schienen einen Ausweg zu finden, wurde so erfolgreich, dass sich Tony Levin (u.a. King Crimson), John Petrucci, Mike Portnoy (beide Dream Theater) und Jordan Rudess nach dem ersten Mal wieder in einem Studio trafen, um komponierte Stücke gemeinsam zu spielen und zu improvisieren. Kein heutiger Musiker spielt ein kraftvolleres, entspannteres, witzigeres und lebendigeres Schlagzeug als Mike Portnoy, wenige Gitarristen, Bassisten und Keyboarder erreichen die first class der anderen Mitspieler. Die Songs strahlen eine so elegante und gnadenlos phantastische, überwältigende und emotional packende Qualität aus, wie tausendundeine weitere Bands nicht zu komponieren, arrangieren, instrumentieren wissen. Nicht in dieser Klasse, dieser Weite, Lässigkeit, Stille, Brutalität und das völlig ohne Selbstzweck. Wieder gibt es ein Booklet mit Credits der Player. Und es gibt 8 Songs, die ein einziger Traum sind. Musik hat kein Ende, mehr kann ich es verstehen. "Acid rain" ist sehr harter, melodischer Stoff mit Saitenläufen, die nur von gut geübten Fingern gespielt sein können, "Biaxident" beginnt ruhig, sinfonisch, nur um seinen Charakter stetig zu wechseln und neue Aspekte einfließen zu lassen. Da rennt eine metallische Gitarre in die Tasten, um schließlich von einem Jazz inspirierten Pianopart eingeholt zu werden. Der Bass sitzt weich, biegsam und beschützend darunter. Das Schlagzeug erweitert den Horizont, wie es bei anderen Bands nur zerhackt. "914" ist ein ultraspannender Song mit dem Überhammerbass, der das Schlagzeug in Trümmer zupft. Irgendwo dahinter suchen Gitarre und Keys einen orientalischen Klang, was in einem grandiosen Tastensolo gipfelt. "Another dimension" schließlich birgt wieder den Basshammer, diesmal von der metallischen Gitarre begleitet, sinfonische Keys schweben darüber. Und plötzlich bricht ein mediterranes Gefühl in den Song, akustische Gitarre und Akkordeon sind entspannt und folkloristisch, bis die Gitarre wieder einsetzt, die in den nächsten zwei Minuten immer wieder das gleiche, fabelhaft sture Metal über uns ergießt. "When the water breaks" ist mit 17 Minuten der längste Song, das big centerpiece der Platte. Der vielschichtige Track lebt von seinen leisen, stillen Passagen und den ausbrechenden, komplexen und überschäumenden Parts, die überraschend und verblüffend entwickelt werden. Mike Portnoy ist der Gott aller Schlagzeuger, andere würden sich dabei das Gehirn verrenken, während er noch lacht... "Chewbacca" erinnert mit seinen crimsonesken Zügen an die Klassiker, so, als würden Dream Theater King Crimson covern. "Liquid dreams" ist ein sinfonisches Stück mit ausufernden Pianosoli und percussiv abstrakten Momenten. Abschließend "Hourglass", nur Akustikgitarre, Bass und Piano - lyrisch, melancholisch, sanft und völlig ohne Pathos. Die Songs wirken alle wie komponiert, obwohl sich so manche Idee erst im Studio entwickelte. Der Charakter des Gesamten geht über Progressive Rock weit hinaus und findet zu einem eigenen Ausdruck, was selbst Dream Theater beneiden dürfte. Hier haben sich Leute gefunden, die in ihrer musizierenden Gemeinsamkeit zu einer höheren Einheit gefunden haben. Liquid Tension Experiment 2 ist eine komplex-homogene Einheit, verschweißt zu einem weiteren Werk, das genauso erfolgreich sein wird, wie der Erstling. Ich hoffe, dass weitere Aktivitäten folgen werden, diese Inspiration muss unbedingt genutzt werden. Vielleicht wird die Band auch hierzulande dereinst live aktiv. Wäre nötig. Ein fast perfektes Album, nahe dem Himmel. Ich lege die Platte noch mal auf und genieße. Das konnten die Urmenschen auf alle Fälle auch schon.

Volkmar Mantei



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