CD Kritik Progressive Newsletter Nr.21 (07/1998)
Anekdoten - Live in Japan / Official Bootleg
(57:37 + 53:08, Disk Union, 1998)
Ganz tief musste ich in die Tasche greifen, um endlich die erste Live Doppel CD einer der momentan mitreißendsten Livebands (und übrigens auch eine meiner Lieblingsbands) in meinen Händen halten zu dürfen. Zweifelsohne ziemlich harter Stoff und nicht jedermanns Geschmack, doch bei Anekdoten sind die rund 60 Mark für den doppelten Japan Import hervorragend angelegt. Zwar steht da auf dem Cover irgendwas von Official Bootleg, qualitativ handelt es sich aber um einen klanglich hervorragend und ohne Overdubs aufbereiteten Mitschnitt zweier Konzerte der Schweden letzten Oktober in Tokio. Auch das geschmackvolle Artwork trägt seinen Teil zur Relativierung des horrenden Importpreises bei. Neben den in Nuancen modifizierten Titeln der beiden Studioalben "Vemod" (komplett bis auf "Longing" vertreten) und "Nucleus" ("Harvest", "Book of hours", "Nucleus", "Rubankh" in einer erweiterten 12-minütigen Version) werden auch gleich vier neue Titel präsentiert. Von ihnen sticht besonders "Slow fire" heraus, das die düsteren, ziemlich heftigen Klänge der inzwischen komplett in Stockholm lebenden Band, noch um magmaeske, schier endlose rhythmische Spannung ergänzt. Beim instrumentalen, orgiastischen "Road to nowhere" wandeln Anekdoten auf den Pfaden der Landsmänner von Landberk. "Groundbound" hat zwar Alternative Rock und wiederum Magma Einflüsse, klingt aber dennoch typisch nach Anekdoten. Das monoton hämmernde Instrumental "Tabath" ist die Reinkarnation eines rituellen Stammestanzes mit extremer Gefährdung der Nackenmuskulatur. Genialer Wahnsinn! Der Schwachpunkt bleibt weiterhin der Gesang, den sich inzwischen Bassist Jan Erik Liljeström und Gitarrist Nicklas Berg teilen. Die zündenden musikalischen Ideen machen diesen kleinen Fauxpas jedoch mehr als wett. Die Mischung aus Melancholie repräsentiert durch Anna Sofie Dahlberg am Mellotron und Cello, sowie Peter Nordins virtuose, explosive Rhythmen, vermengt mit verzerrten und kräftigen Bass- und Gitarrenklängen, erfordern an manchen Stellen extreme musikalische Aufgeschlossenheit und zünden nicht beim ersten mal. Wer jedoch einmal von der Magie Anekdotens gefesselt wurde, den lässt diese nicht mehr los. Ein Süchtiger berichtet aus eigener Erfahrung.
Kristian Selm
© Progressive Newsletter 1998