CD Kritik Progressive Newsletter Nr.20 (05/1998)

Crucible - Tall tales
(61:48, Privatpressung, 1997)

Es gibt doch immer wieder mal positive Überraschungen - und diese Band gehört sicherlich dazu. Vor nicht allzu langer Zeit bin ich naiverweise noch davon ausgegangen, dass ein sogenannter "Tipp des Monats" in einer anderen Publikation gewissen Mindestanforderungen entsprechen sollte und ein blindes Bestellen wenig Risiken birgt. Als ich dann aber ein ausgesprochen lächerliches Produkt in Händen hielt, wollte ich eigentlich in Zukunft auf derartige Aktionen verzichten. Erfreulicherweise hatte ich bei Crucible noch mal eine Ausnahme gemacht, was sich als ausgesprochener Glücksgriff erwies. Momentan ist "Tall tales" bei mir die meistgehörte CD und für mich ist diese Band der Newcomer der letzten 12 Monate. Dieses Album habe ich bereits zig-mal rauf und runter laufen lassen - ohne Verschleißerscheinungen. Mit ihrem Erstlingswerk gelingt ihnen das Kunststück, sowohl für den Neo Prog Fan als auch für den Fan des 70er Artrocks (wozu ich mich zähle) interessant zu sein. Auf 8 Songs verteilt bieten die fünf Amerikaner erstklassige Musik ohne jeglichen Durchhänger. Hier wird nicht Wert auf Breakfestivals oder möglichst komplexe Kompositionen mit Hochgeschwindigkeitssoli gelegt, sondern auf Melodie, Atmosphäre und nochmals Melodie. Und dies ist ihnen wahrlich hervorragend gelungen. Erster auffälliger Pluspunkt: Sänger Bill Esposito, der mit seiner glasklaren Stimme ohne jegliche Schnörkel zu überzeugen weiß. Dazu kommt, dass ihnen richtiggehend schöne Gesangsmelodien gelungen sind, was man einigen Prog-Kollegen leider absprechen muss. Keiner der Musiker spielt sich übertrieben in den Vordergrund; so erscheinen z.B. die Tasten zunächst etwas unauffällig, doch nach und nach stelle ich fest, wie hervorragend Keyboarder Tim Horan, der für sämtliche Kompositionen verantwortlich ist, auf diesem Album arbeitet. Ob Genesis-artige Orgeleinlagen, dezente Mellotron Einsätze - alles passt hundertprozentig. In der Tat erinnern einige Passagen (auch bezüglich Gitarrenarbeit) an Genesis zu seligen "Selling England by the pound"-Zeiten (z.B. die "Cinema show"-ähnliche Einlage im 21-minütigen "An imp's tale"). Andererseits kommt man sicherlich hin und wieder in Versuchung (speziell auch den Gesang betreffend) in "Tall tales" ein neues Iluvatar Album zu vermuten. Sogar ein Titel mit Reggae(!)-artiger Orgel ("The salamander") kann mich begeistern und das will schon einiges heißen, denn Reggae ist wahrlich nicht mein Ding. Dass dies in einen Prog-Song eingebaut werden kann, ohne den geneigten Hörer zum Weiterzappen zu verleiten, beweist schon einen gewissen Einfallsreichtum. Zusammenfassend lasse ich mich ohne Bedenken zu einer uneingeschränkten Empfehlung sowohl für den Art Rock, wie auch für den Neo Prog Fan hinreißen. Von dieser Band erwarte ich in Zukunft noch sehr, sehr viel! Ich freue mich schon jetzt auf das neue Album. An dieser Stelle noch die Besetzungsliste, da man sich diese Namen wirklich merken sollte: Bill Esposito (Gesang), Dan Esposito (Gitarre), Tim Horan (Keyboards, ak. Gitarre, Flöte) , Chris Kasidas (Bass) und Tony Cappelina (Schlagzeug).

Jürgen Meurer



© Progressive Newsletter 1998