Vor zehn Jahren: Keith Emersons Rückkehr zum Progressive Rock
(51:23, CD, Edel Records, 2008)
2008 war die Überraschung groß, als aus dem Nichts ein neues Album von Keith Emerson, einem der wichtigsten Keyboarder und Komponisten der Rockgeschichte, angekündigt wurde. Seine wenigen, in den vorherigen Jahren erschienenen Alben waren entweder Soundtracks oder eher auf klavierbetonten Jazz konzentriert, aber mit dem recht simpel betitelten “Keith Emerson Band feat. Marc Bonilla” gelang Emerson etwas, mit dem niemand mehr gerechnet hätte, nämlich die Rückkehr zum Progressive Rock.
Diese Rückkehr war aus Sicht der Fans und der Musikjournalisten spätestens seit dem Ende von Emerson, Lake & Palmer im Jahr 1998 eigentlich endgültig abgehakt – von seinem kurzen Intermezzo mit The Nice im Jahr 2002 und einigen darauffolgenden kurzen Solo-Konzertreihen abgesehen. Entscheidend für diese Rückkehr war, dass Emerson die Anfang der 90er-Jahre entstandene Nervenkrankheit in seinem rechten Handgelenk besser unter Kontrolle hatte und wieder auf einem hohen Niveau spielen konnte.
Emersons Solokarriere war bis zu diesem Zeitpunkt weniger von konsistenten Alben geprägt, zudem war das Gewicht der ELP-Alben sowie deren Einfluss auf den Progressive Rock zu schwer, um sich ohne seine beiden Mitstreiter Greg Lake und Carl Palmer davon vollständig lösen zu können. Mit Marc Bonilla fand Emerson in den 90er-Jahren hingegen einen Kollegen und Kumpel, der anders als Greg Lake seine eigenen Kompositionen nicht zur Bedingung machte, sich aber durchweg als Gitarrist gesehen hat. Daraus resultierte die erneute Quartettbesetzung mit Schlagzeug (Gregg Bissonette), Bass (Bob Birch) und Gitarre neben den Keyboards, die Emersons Schaffen in den 2000er-Jahren ausmachte und – nebenbei bemerkt – von 2002 bis 2006 Dave Kilminster als Stammgitarristen vorsah, der später in Roger Waters’ und Steven Wilsons Bands spielte.
Dass Bonilla im Titel des Albums explizit genannt wird, deutet auf seinen großen Einfluss bei diesem Album hin. Das Songwriting war laut Emersons Aussagen bequem: er warf oft Ideen in den Raum oder spielte einfach drauf los und Bonilla entwickelte daraus Songs. Allerdings wird auf dem Album Emersons Können als Komponist genauso deutlich, da die Unterschiede zwischen Bonillas und Emersons Stücken bereits beim Hören klar werden. Bonilla bringt einen deutlichen AOR-Einfluss vor allem in der zweiten Hälfte des Albums ein, der sich durch die Besetzung und Emersons Spielweise jedoch vor dem in diesem Genre üblichen Kitsch retten kann. Im Gegenteil wird stellenweise der 80er-Prog fortgeführt, den die kurzlebige Quasi-ELP-Besetzung Emerson, Lake & Powell 1986 ausmachte.
Die Parallelen zur Musik von Emerson, Lake & Palmer bestimmen allerdings das gesamte Album. Ein knapp 35-minütiges, mehr oder weniger zusammenhängendes Stück namens ‘The House of Ocean Born Mary’, das lose auf einer Gruselgeschichte von Marion Lowndes basiert, die Emerson und Bonilla als Kinder gelesen hatten und ihnen als zufällige Gemeinsamkeit diente, ist das Zentrum des Albums. Das Stück selbst ist in 15 Teile und gleichermaßen separate Tracks unterteilt, die von wenigen Sekunden bis über sechs Minuten dauern. Es beginnt mit ‘Ignition’, einer spannenden Klangcollage aus wohligem Moog- und Hammondsurren, Kirchenorgeldröhnen sowie losen Klaviernoten, aber die Zündung erfolgt noch nicht. Ein abrupter Übergang zu ‘1st Presence’, einem Intermezzo auf der Kirchenorgel, erinnert an ELPs Album “Pictures at an Exhibition” von 1971, aber das erste vollwertige Stück des Albums geht noch ein Jahr weiter zurück: ‘Last Horizon’ stampft voraus und bedient sich einiger Elemente, die auf das 1970 erschienene Debütalbum von ELP verweisen, nämlich einem drückenden Rhythmus und – wohl am wichtigsten – dem kräftigen Sound von Emersons Hammondorgel. Die verbrauchte Floskel ist angebracht, weil man sich bei diesen Klängen wie zu Hause fühlt. Gerade dieser eher simple, erdige, von der Hammondorgel dominierte Sound wurde von ELP nach den ersten zwei, drei Jahren der Band weit in den Hintergrund gerückt. Quasi logischerweise, da sich Emersons Keyboardarsenal immens erweitern und sich der ähnliche Klang seiner ersten großen Band The Nice bewusst nicht wiederholen sollte. ‘Last Horizon’ geht über in ‘Miles Away Pt. 1’, welches mit dezenten Gitarren- und Klaviermelodien und einem Mellotron im Hintergrund etwas an Balladen von Porcupine Tree erinnert, bevor ‘Miles Away Pt. 2’ mit viel Druck und höherem Tempo Emerson an Hammond und Moog von seiner besten Seite zeigt. Im direkten Übergang zu ‘Crusaders Cross’ wird das Thema von ‘Last Horizon’ am Klavier aufgegriffen und mit der kurzen ‘Fugue’ zum Abschluss gebracht.
‘2nd Presence’ als erneutes und kurzes Zwischenspiel an der Kirchenorgel wird von ‘Marche Train’, mit über sechs Minuten dem längsten Track des Albums, abgelöst. An sich ein einfacher Rocksong, entfaltet das Stück vor allem durch Emersons Soli eine hohe Spielfreude, die zwar in jedem Stück des Albums zu hören ist, aber hier ihren Höhepunkt erreicht. Zwischen pompöse Synth-Streicher und Fanfaren grätscht immer wieder die Hammondorgel, wodurch das Stück bombastisch, aber nicht überladen klingt. Mehr oder weniger angehängt wird allerdings das kurze Stück ‘Blue Inferno’, das irgendwo zwischen Emersons Soundtracks und Emerson, Lake & Powell rangiert. Passenderweise wurde die von einem Synthesizer getragene Melodie in den Konzerten zum Album als Intro für den EL&Powell-Klassiker ‘Touch And Go’ genutzt.
Es folgt ‘3rd Presence’, das wieder auf der Kirchenorgel gespielt wird. Es ist als einziges der drei ‘Presence’-Stücke von einem auskomponierten Charakter, was neben all den Rockstücken keineswegs unpassend wirkt, sondern schlichtweg beeindruckend klingt. Da das Tempo des Albums durch dieses Stück gebremst wurde, passt ‘A Prelude To A Hope’ als eher traurige, aber sehr schöne Klavierballade mit einem leisen, elektronischen Hintergrundflirren gut dazwischen, bevor mit ‘A Place To Hide’ eine dramatische AOR-Ballade folgt. ‘Miles Away Pt. 3’ hingegen greift erneut den an Porcupine Tree erinnernden balladesken Sound auf, jedoch mit einem furiosen Ende, bei dem Emerson eine sehr schöne, intensive Begleitung zu Bonillas langem Gitarrensolo liefert. Nach einem raschen Schnitt folgt mit ‘Finale’ ein Instrumentalstück, das sicher viel Bombast bietet, allerdings ebenso ein Schlagzeugsolo, das in verschiedenartige Band-Passagen mündet, mal klavierbetont, mal spacig. Am Ende greift die Band das Hauptthema des Stücks auf und bringt es zu einem großen, pompösen Abschluss.
Die späteren Konzerte und ihre Setlisten zeigten, dass ‘The House of Ocean Born Mary’ eher pro forma als zusammenhängendes Stück auf dem Album präsentiert wurde, da live davon nur einzelne Tracks gespielt wurden. Tatsächlich stehen viele musikalische Ideen in diesem Konzeptstück oft nebeneinander, mitunter ohne Übergänge oder überraschend grob verbunden. Allerdings sind die einzelnen Songs stellenweise so gut, dass man getrost über diese Schwäche hinwegsehen kann. Die Band entwickelt in den Stücken einen starken Drive, eben jene Spielfreude, die beim Zuhören einfach Spaß macht.
Die vier übrigen Songs des Albums sind in ihrer Machart erneut an ELP angelehnt. Mit ‘The Art Of Falling Down’ beginnt dieser Teil des Albums mit einem überraschend poppig geratenen Stück, das mit einigen schönen Melodieläufen und kurzen, knackigen Soli aufwarten kann. Zwar ist hier der AOR-Sound recht dominant, aber dafür ist die Musik kleinteilig und verspielt – so, wie es in den 80ern bei Emerson, Lake & Powell der Fall war.
Klar heraus aus dem zweiten Teil des Albums sticht ‘Malambo’, eine klassische Adaption eines Stücks aus Alberto Ginasteras ‘Estancia Suite’. Dieser argentinische Komponist hatte es Emerson schon in den 70ern angetan (ELPs ‘Toccata’ und ‘Creole Dance’ stammen von ihm). Emerson schien sich in Ginasteras Musik wiederzufinden, da er diese Stücke brillant arrangierte, so auch ‘Malambo’. Die Rhythmen des Stücks werden von der Band wunderbar aufgegriffen und hin- und hergeschoben, ohne in bloßem Nachspielen der Melodie zu enden. Vielmehr macht sich Emerson dieses Stück zu eigen und zeigt, dass ihm das Arrangieren klassischer Stücke im Bandkontext niemand nachmacht.
Nach dem großartigen ‘Malambo’ folgt mit ‘Gametime’ ein Lied der spaßigen Sorte, diesmal als Mischung aus Country und Rock’n’Roll, natürlich mit Honky-Tonk-Piano (und dem Intro des ‘Honky Tonk Train Blues’). Diese Facette Emersons gab es bei ELP immer wieder zu hören, allerdings passt das Stück nicht zum Rest des Albums (wie fast alle Stücke dieser Art in der Bandhistorie) und gibt auch musikalisch nicht allzu viel her. Anders ist das letzte Stück des Albums, ‘The Parting’: eine starke, rockige Ballade mit einem dramatischen und kraftvollen Ende. Nachdem die meisten Instrumente ausklingen und Bonillas Gesang im Delay verschwindet, bleiben nur noch Emersons Synthesizer, Orgeln und sein Klavier übrig, um mit genau dem Surren und Dröhnen aufzuhören, mit dem das Album beginnt.
Auch wenn das Konzept des Albums einen starken Bezug zu dem Schaffen von Emerson, Lake & Palmer aufweist (wie sollte es auch anders sein), ist es insgesamt dennoch musikalisch ein frischer Wind und kein Aufguss alter Ideen. Emerson und Bonilla wussten 2008, wo der Prog damals stand, und schafften es, ihre Musik anzupassen bzw. auszurichten, aber zugleich den typischen Emerson-Sound mit voller Kraft nach vorne zu bringen. Das Album wirkte wie ein Auftakt, wie ein neues Kapitel, allerdings entwickelte sich alles leider anders.
Was geschah nach der Veröffentlichung dieses Albums? Aus einer von vielen Fans gewünschten Europatour wurde leider nur eine Nord-/Osteuropatour, woraus das sehr gute Livealbum “Moscow” resultierte, das ebenfalls als Konzertfilm existiert. Das Jahr 2010 brachte mehr oder weniger aus dem Nichts den so sehnsüchtig erhofften Umschwung: 40 Jahre nach der Gründung von Emerson, Lake & Palmer fand sich das Trio zu einem einmaligen Jubiläumskonzert anlässlich des “High Voltage”-Festivals in London zusammen, zuvor tourten Emerson und Lake zum Aufwärmen als Duo durch die USA. Nach dem folgenden und – wie sich später leider bewahrheitete – endgültigen Aus von Emerson, Lake & Palmer widmete sich Emerson fast ausschließlich der klassischen Musik und ordnete seine Solo-Band dem orchestralen Konzept unter. Ab und an jammte er noch auf einer lockeren Basis mit verschiedenen Bands in Clubs und Kneipen in seinen Wohnorten, aber die große Bühne empfand er nicht mehr als reizvoll. Im Gegenteil begegnete er Auftritten in einem größeren Rahmen stets angespannt, da er sich seinem eigenen, sehr hohen Niveau und den Erwartungen der Fans verpflichtet sah.
Von seiner zurückgekehrten Nervenkrankheit und schweren Depressionen geplagt, nahm Keith Emerson sich in der Nacht vom 10. auf den 11. März 2016 das Leben. Nach seinem unvorhersehbaren Tod änderte sich seine wichtige, aber oft umstrittene Position in der Geschichte des Rock und insbesondere des Prog nicht, allerdings rücken seitdem seine klassischen Kompositionen, die zwar zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurden, jedoch zum Teil unveröffentlicht sind, vermehrt in den Fokus und entwickeln sich zum orchestralen Repertoire.
R.I.P. Keith Emerson!
Bewertung: 14/15 Punkten (WE 12, WM 14, KS 12)
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