Doppelt hält besser
Man durfte durchaus gespannt sein, wie der Großmeister des Progressive Rocks Steven Wilson die Tour zum Album “To The Bone” angehen wird: Mit dem aktuellen Tonträger hat sich der Brite stärker denn je zuvor vom Progressiven in seiner Musik verabschiedet und dem Pop deutlich die Hand gereicht. Inwieweit das neue Material mit dem kopflastigeren, progressiven Back-Katalog harmonieren wird, war die Frage. Beantwortet wurde sie im ehrwürdigen Essener Colosseumtheater. Da Steven Wilson den 05. März innerhalb kurzer Zeit ausverkauft bekam, wurde ein Zusatztermin am Folgetag angelegt, der allerdings auch irgendwann als ausverkauft markiert wurde. Prog oder Pop – Wilson zieht seine Fans mehr denn je in seinen Bann.
Der 05. März
Für die Gigs in Essen und ein paar weiteren Orten gab es mit Donna Zed einen Support Act. Die junge Schweizerin füllte diesen Part in Personalunion aus. Sehr pünktlich um 19.15 Uhr betrat sie die Bühne. Erst wenige Minuten zuvor öffnete das Theater – die meisten Besucher waren noch auf dem Weg zum Theater oder aber an der Garderobe oder in der Lobby – entsprechend leer war es im bestuhlten Saal. So bekam tatsächlich kaum jemand mit, wie sich Donna Zed hinter ihr Keyboard stellte und fortan für vier Songs einen guten Eindruck hinterließ. Sie präsentierte recht sperrige Musik, überzeugte dabei mit tollem Gesang und ebenso gutem Spiel.
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Um Punkt 20.00 Uhr war es schließlich an der Zeit für Steven Wilson. Das Theater war inzwischen natürlich rappelvoll. Es wurde dunkel und eine Stimme aus dem Off begrüßte die Besucher, stimmte dabei auf einen kleinen Vorabfilm ein. Der lief aber nicht auf der großen Leinwand am hinteren Bühnenrand, sondern wurde auf einem herabgelassenen, durchsichtigen Vorhang projiziert, der im vorderen Bühnenbereich noch vor den Mikrofonständern für die Musiker immer wieder zur Geltung kommen sollte. Der Film verknüpfte Begriffe wie “family”, “compassion”, “happiness” oder “enemy” mit passenden Fotos, wechselte später die Fotos zu den Begriffen etwas durch, baute zudem eine zunehmend bedrohlichere Soundkulisse auf.
Gegen Ende des Films betrat die Band fast unbemerkt die Bühne und legte, nachdem der Vorhang zur Seite gezogen wurde, mit ‘Nowhere Now’ und ‘Pariah’ (leider ohne Ninet Tayeb, die überlebensgroß lediglich auf den Vorhang projiziert wurde) direkt mit zwei Songs vom aktuellen Album los. Die Musiker, die Mastermind Steven Wilson auf dieser Tour begleiten, sind im wesentlichen die gleichen Herren, die schon zur Hand.Cannot.Erase Tour mit von der Partie waren. So gab es in Essen ein Wiedersehen mit Nick Beggs (Bass, Chapman Stick), Craig Blundell (Drums) und Adam Holzman (Keyboards), an der Gitarre aber überzeugt auf dieser Tour Alex Hutchings statt Dave Kilmister. Allesamt sind absolute Meister ihres Fachs.
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Insgesamt dauerte der Auftritt von Wilson & Co gute 2 1/2 Stunden, war in zwei Sets unterteilt, denen gegen Ende noch eine Zugabe folgte. Natürlich standen Songs des aktuellen Tonträgers im Fokus. Acht der elf Songs wurden performt. Dabei schmiegten sich diese eher leichtgewichtigeren Songs prima in die Setlist ein, die ansonsten mit jeweils sechs Porcupine Tree- bzw. älteren Steven Wilson-Songs prima gefüllt war. Tatsächlich kamen die neuen Stücke live druckvoller und härter rüber als man vermuten sollte. Lediglich ‘Permanating’, Wilsons Hommage an den frühen Pop der 70er und 80er Jahre, blieb quasi unverändert. Es war auch dieser Song, der Wilson zu einer längeren Ansage motivierte. So erzählte er, wie er als Kind mit den Pop- und Rock-Alben seiner Eltern groß wurde. Und erst in der High School lernte, dass Menschen Musik in Genres einstuften, und er es zeitgleich absolut nicht verstand, dass Leute direkt mit einem ganzen Genre nichts anzufangen wussten.
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Nein, an der Performance und der Setlist gibt es absolut nichts zu kritisieren. Die Band spielte wie aus einem Guss, war mit bester Stimmung bei der Arbeit. Desöfteren konnte man beobachten, wie sich Steven Wilson und Nick Beggs zugrinsten, sich irgendwie anstachelten. Es waren auch die beiden plus Alex Hutchings, die für den vielleicht größten Gänsehautmoment des Abends sorgten: der Wechselgesang während ‘Heartattack in a Layby’ war schlicht und einfach nur perfekt. Ganz großes Kino, mehr geht einfach nicht. Aber hier zeigte sich dann auch extrem deutlich, woran es an diesem Abend haperte: am Publikum. Es kam schlicht und einfach keine Stimmnung in das Theater. Natürlich fiel das auch Steven Wilson auf, der vom ruhigsten Publikum der ganzen Tour sprach, es aber Gentleman-like darauf schob, dass das Publikum vermutlich besonders konzentriert lauschen würde. Aber das war natürlich nur die halbe Wahrheit. Klar ist: ein komplett bestuhltes Konzert lädt nicht wirklich ein zur Exstase. Und klar ist auch: gerade ein exquisites Theater wie das Colosseumtheater in Essen mit roten Teppichen in der Lobby, weiß gekleideten Platzanweisern, rot beplüschten Sitzplätzen .. das hat schon sehr wenig Rockkonzert-Charakter. Wenn dazu die Rockband noch -zig Meter hinter dem Bühnenrand agiert, damit der durchsichtige Vorhang seine Wirkung ab und an entfalten kann, dann baut das nochmals eine größere Distanz zwischen Musiker und Publikum auf. Und dann kann es halt auch schon mal an der Stimmung hapern.
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Gleichwohl wurde eine Zugabe serviert. Dies sollte zum einen ‘Even Less’ sein, der alte Porcupine Tree-Klassiker. Für diesen kehrte lediglich Steven Wilson auf die Bühne zurück, spielte diesen Song auf seiner alten Fender Telecaster und einem mobilen Verstärker, den er aus dem Backstagebereich mit nach vorne brachte. Und natürlich wusste er auch zu diesem Equipment noch einiges zu erzählen, bis er schließlich loslegte und eine ganz spezielle Version dieses Klassikers zum Besten gab. Abgerundet wurde die Zugabe schließlich von der ganzen Band, die mit ‘The Raven That Refused To Sing’ noch einmal ein weiteres Highlight setzte.
Der 06. März
Steven Wilson kündigte schon am Vortag an, dass die Setlist am Folgetag eine andere sein würde. Und zwar damit die Gäste, die sich Tickets für beide Abende besorgt haben, nicht die gleiche Show zweimal unverändert sehen müssten. Schließlich habe er ja auch reichlich Material zur Auswahl. Und als er abfragte, wieviele Leute denn am Folgetag wieder kämen, gab es durchaus Feedback aus dem Publikum.
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Tatsächlich war die Setlist in vielen Belangen anders. So stand das erste Set am 06. März ganz klar im Zeichen des Vorgänger-Albums “Hand.Cannot.Erase”. Mit ‘Perfect Life’, ‘Routine’, dem laut Wilson traurigsten Wilson-Song ever, ‘Hand.Cannot.Erase’ oder auch ‘Happy Returns’ zauberte die Band Hit an Hit aus dem Hut, sorgte dabei im Publikum für viele feuchte Augen. Das zweite Set war ein Mix aus Songs vom neuen Wilson-Album und Porcupine Tree-Klassikern, von denen ‘Don’t Hate Me’ und ‘The Sound Of Muzak’ nicht zum Standard-Set (vgl. Setlist vom Vortag) gehören.
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Auch am 06. März war die Stimmung im Theater nicht wirklich überwältigend, wenngleich schon besser als am Vortag. Gegen Ende des zweiten Sets ließ sich Wilson dann doch zur Aussage hinreißen, dass es jetzt “passen” würde. Es wäre ihm als Künstler schon sehr wichtig, dass eine Verbindung zum Publikum entsteht – und dass er einfach angewiesen sei auf Feedback seitens der Gäste.
In der Zugabe wurde zwar mit ‘The Raven ..’ der gleiche Rausschmeißer auserkoren, allerdings wurden mit ‘How Is Your Life Today?’ und ‘Harmony Korine’ zwei weitere Songs präsentiert, die es am Vorabend nicht auf die Setlist geschafft hatten. Ingesamt wurden damit satte zehn Songs am Dienstag performt, die am Montag nicht gespielt wurden. Eine beachtlichte Quote!
Für beide Abende kann man nur die Höchstnote vergeben. Eine Band auf höchstem Niveau, ein glasklarer Sound (wenn auch sehr laut!), eine beeindruckende visuelle Untermalung, in allen Belangen geht es einfach nicht besser. Was Wilson und Co. an beiden Abenden in Essen darboten, war schlichtweg grandios.
[Nur eine kurze Ergänzung: Am 5. März waren noch einige andere BP-Schreiberlinge (u.a. HR, WE, JW und JM) vor Ort. Die einhellige Meinung: die Klasse der Band und der Songs ist unbestritten, aber über den Sound gingen die Ansichten auseinander. Glasklar hingegen war, dass die Lautstärke dermaßen brutal überzogen war, dass dies für manche aus unserer Gruppe das Konzert nachhaltig vermiest hat. Leider! JM]Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Standard. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
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Fotos von den Konzerten
Setlist vom 05.03.18
Setlist vom 06.03.18
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Fotos von den Konzerten
Fotos: Andrew Ilms
8 Kommentare
Zum “glasklaren” Sound möchte ich als Teilnehmer des Essener Konzerts am 05.03.2018 (mittig – Reihe 11) ergänzen, dass durch einen überwiegender Schallpegel von 115 dB(A) und zuweilen lauter, für mein Empfinden eher die Zertifizierung “gesundheitsschädlicher Klangbrei” zu vergeben ist. Es war mein fünftes Wilson Konzert in sieben Jahren und seine Konzerte werden immer lauter. Vorher war ich drei Tage auf dem Progdreams Festival in Zoetermeer und war von 11 Bandauftritten klangtechnisch begeistert. Selbst das letzte Deep Purple Konzert am 06.06.2017 in der Kölner Lanxess Arena war klangtechnisch überzeugend. Mit diesem akustischen Terrorangriff auf mein Wohlempfinden hat mich Herr Wilson von seinen nächsten Events vertrieben.
Hi Wolfram, ich selbst war in der Alten Oper Frankfurt und kann deine Aussage über den “Klangbrei” unbedingt bestätigen. Für mich ging es soweit, dass ich überhaupt keinen Spaß am gesamten Konzert hatte. Wirklich schade. Tolle Musiker, die sich abmühen, … bei mir kam nichts davon an. Habe Wilson nun schon etliche Male in verschiedensten Locations erlebt, die letzten Konzerte waren alle soundtechnisch ungenügend. Für mich war es nicht unbedingt die Lautstärke, die mich gestört hat (Ok, es war laut! Aber andere Bands spielen auch laut und es klingt gut!), vielmehr machte der viel zu basslastige Soundbrei eine Unterscheidung der einzelnen Instrumente bzw. ein Erkennen der gespielten Harmonien schlichtweg unmöglich. Für mich war es leider nur rhythmischer Lärm, der da aus den Boxen kam! Dass Wilson es anders kann, weiß ich: No Man vor einigen Jahren in Aschaffenburg – der beste, differenzierteste Sound, den ich jemals hörte bei einem Konzert.
Schallpegel von 115 dB gehen nicht, ab 85 dB fängt die Gehörschädigung an. An einen Klangzauberer und Tontechniker habe ich einfach andere Erwartungen. Ich war froh meinen speziellen Gehörschutz dabei zu haben, ist zwar teuer aber deutlich preisgünstiger wie ein Hörgerät.
In der Form werden ich mir Herr Wilson wohl Live nicht mehr antun, schade.
Moin die Herren, in der alten Oper in Frankfurt war der Sound auch nicht gerade überragend. Was ich da aber auch schon bei anderen Künstlern feststellen musste. Das dumme ist, dass die Musiker auf der Bühne den Sound im Saal eigentlich nie beurteilen können. Die Frage ist, inwiefern ein Steve Wilson in solchen Fällen ein Feedback bekommt. Ein Frankfurter Zeitung schrieb ebenfalls von “glasklarem Sound”. Natürlich empfindet jeder anders. Aber wenn sich Fans mehr dazu äussern würden, dann stände ggf. irgendwann ein anderer Mischer hinter dem Pult.
Auch ich war freiwilliges “Opfer” dieses Musikfestes und bin als Erstbesucher eines Wilson Konzertes zutiefst enttäuscht von dieser brutalen Lautstärke. Als High End Liebhaber ist mir ebenfalls der beschriebene glasklare Klang über das gesamte Konzert hinweg entgangen, möglicherweise hatte mein Gehörgang während des Events auch nur seine Dienste verweigert.
Mir ist absolut unverständlich, mit welcher Ignoranz sich dieser begnadete Musiker über jeglichen Verstand hinwegsetzt. Mag sein, dass er den tatsächlichen Lärmpegel nicht mehr registrieren kann. Vielleicht leidet Wilson schon selber unter einem Gehörschaden?……was bei großen Musikern ja keine Seltenheit ist, wie man weiß. Dennoch sollte es genügend Hinweise in der Vergangenheit bei vergleichbaren Konzerten gegeben haben. Eine von mir vorgenommene Anmerkung, auf seiner Website, blieb bislang ohne jegliche Reaktion. Das spricht für sich. Die mangelnde, euphorische Stimmung kann ich durchaus bestätigen, aber wenn ein Großteil der Fans genauso geschockt war, wundert die Reaktion nicht wirklich. Lautstärke ist kein Garant für musikalischen Spaß, dass haben wohl einige Musiker scheinbar noch nicht ganz verstanden. Mein Fazit für die Zukunft: Steven Wilson gibt es dann halt nur auf dem Sofa……eigentlich sehr schade.
Vielen Dank für die Kommentare zu meinem Review. Wie ich so ähnlich schon bei Facebook schrieb: Mit meinem an meine Ohren angepassten Gehörschutz, der den Krach (je nach Modell) ca. 20 dB – 30 dB reduziert, hatte ich absolut keine Probleme mit dem Konzert, auch kein Fiepen in den Ohren nach dem Konzert oder gar später nachts im Bett. Gar nichts. Für mich war der Sound wirklich nur glasklar – tatsächlich hören sich aber alle (!) Konzerte mit dem Gehörschutz Welten besser an. Dass es angeblich so laut war, wurde mir übereinstimmend von anderen Besuchern nach dem Konzert berichtet, und nur deswegen habe ich dies überhaupt in den Text aufgenommen.
Tur mir leid für Euch, dass Eure Wilson-Erfahrung so negativ war. Sowas sollte nicht sein.
Andrew, was ist das für eine Kultur, in der man den Genuß nur mit Gehörschutz erleben kann? Ich hatte meinen professionellen Gehörschutz fatalerweise vergessen. Zum Glück gibt es doch noch reichlich Künstler/Bands, die exzellente akustische Konzerte bieten, ohne einen Gehörschutz benutzen zu müssen. Im Fall von Steven Wilson bin ich umso mehr erschüttert, da ich ein großer Fan seiner Remixe bin und die ersten drei Wilson Konzerte noch genießen konnte.
Ich kann Wolfram nur beipflichten, bei einem wirklich gut abgemischten Konzert sollte generell ein Verzicht auf noch so teuren Gehörschutz möglich sein. Kein Künstler kann davon ausgehen, dass sich jeder aus weiser Voraussicht mit entsprechenden Filtern ausgerüstet ist. Auch der beste und ich besitze auch einen eigens für meinen Gehörgang hergestellten Ohrstöpsel, führt stets zu einer Veränderung des Frequenzganges und damit zu einer Beeinträchtigung des Hörgenusses. Also warum dieser unnötige Aufwand, wenn es ohne Schutz mehr Klangvergnügen geben würde. Wir als Konsumenten und Konzertliebhaber sollten, dass nur einmal mit dem nötigen Nachdruck kommunizieren und wenn es halt der Verzicht auf Konzertbesuche sein muss.