(41:40; Vinyl, Earbook, Blu-ray (2CD + Blu-ray), CD, Digital; Fiction Records, 14.03.2025)
Mit einiger Spannung erwartete man die neue Langrille von Steven Wilson, da von einer Rückkehr zu mehr konzeptionellem Prog gesprochen wurde. Versetze dich bitte zunächst in die demütige Perspektive eines Astronauten, der auf unseren Planeten schaut und die Größenordnung beziehungsweise die Relation zur tatsächlichen Bedeutung oder auch Bedeutungslosigkeit unseres Seins in Relation zur Unendlichkeit (des Alls) beschreibt. Unterstützung für dieses Unterfangen fand Wilson, was die textlich-konzeptionelle Seite der Platte betrifft, bei keinem Geringeren als Andy Partridge von XTC.
Zwei Longtracks, jeweils um die 20 Minuten – also klassisches LP-Format –, wie es in den frühen Siebzigern gern an der Tagesordnung war. Ist “The Overview” nach dem eher elektronischen, experimentellen Art Pop von “The Harmony Codex” die lang gehegte Rückkehr zum klassischen Progressive Rock?
Ich habe das Album – so viel vorweg – bei jedem Hördurchgang am Abend mit passendem Licht und ohne Ablenkung wirken lassen und war schon beim ersten Durchlauf begeistert. Wilson gelingt es scheinbar völlig unverkrampft, den floydigen Space Rock/Ambient der frühen Porcupine-Tree-Phase, also z. B. “The Sky Moves Sideways”, aber auch die elegisch melodiöse Seite von “Stupid Dream” und “Lightbulb Sun” mit dem balladesken Pop von Blackfield zu koppeln. Außerdem integriert er leichtfüßig die verspielten Solo-Charakteristika, und beide Tracks gestalten sich spannend, jederzeit hoch atmosphärisch, ohne zu sehr in die experimentell, gar zu jazzige Attitüde mancher seiner jüngeren Alben zu verfallen. Gerade das letzte eher elektronisch gestaltete Album findet mit “The Overview” einen mehr als passenden Konterpart.
Eigentlich würde ich jedem Fan da draußen zurufen: Wenn du bis auf die wirklich kantigen Metal-Anteile alles am musikalischen Schaffen des Steven Wilson zu schätzen weißt, dann kauf’ dieses Album und genieße einfach jede Sekunde. Mit knapp 23 Minuten startet ‘Objects Outlive Us’ und ruft so wundervolle Flashbacks in Richtung der betörenden Space-Rock-Sphären in “The Sky Moves Sideways” hervor, die somit auch perfekt das Album-Thema spiegeln und den Hörer sofort ins All beamen. Wilson, begleitet von wundervoll harmonisch akustischen/elektrischen Gitarren, singt mal im Falsett, dann betörend mehrstimmig produziert, dass es eine wahre Freude ist. Auch wenn es zwischendrin mal kurzzeitig etwas kantiger wird (ein seltsam vertrackter Bass-Break führt zu etwas Irritation), bleibt der Song kosmisch, butterweich und ist permanent voller Details, die diesmal nicht überfordernd oder irgendwie anstrengend erscheinen. Im Gegenteil, es harmonisiert, mal fragil, mal aufbrausend orchestral. Bombastische mehrstimmige Chor-Parts integrieren hier und da etwas Queen in das Szenario, der frühe außerirdisch balladeske Bowie-Sound hinterließ für dieses Album mehr als nur kleine Einfluss-Partikel. Etwas verschroben und heavy tauchen Parts im King-Crimson-Mode im Mittelteil für drei bis vier Minuten auf und geben dem ansonsten fast zu harmonischen Gestus die nötige Würze, den nötigen Kontrast. Umso schöner fallen danach die extrem schwerelosen Parts ins (Un-)Gewicht. Eine bei diesem Künstler lang nicht erlebte, ausufernd elegische Melancholie, die in einen kompletten Schwebezustand überleitet (sage nur “The Sky Moves Sideways”). Instrumental erneut auf höchstem Niveau, siegt hier insgesamt jederzeit das Gefühl, die Atmosphäre, der klassisch elegische Progressive-Rock der Siebziger. Man darf sich mal wieder so richtig schön fallen lassen, was ja zuletzt bei Wilson nicht immer Programm war.
Das 18-minütige ‘The Overview’ beginnt mit einer strangen weiblichen Computerstimme, dazu elektronische Loops, die relativ schnell mit diesen einnehmend kosmischen Synth-/Ambient-Sphären aufgeladen werden, die den nostalgischen “The Sky Moves Sideways”-Querverweis erneut provozieren – was ich als Fan der frühen Porcupine Tree-Alben und natürlich Pink Floyd wie ein Schwamm aufsauge. Tagträumerische Vocals, akustische Gitarren, simple Drums und die so geliebten Slide-Momente geben dem geneigten Fan das Gefühl, übrig gebliebene Stücke der “Stupid Dream”-Ära präsentiert zu bekommen. Auch hier wird dank der fragilen Vocals/Melodien, den tollen altmodischen Synth-Effekten und der lange so nicht heraufbeschworenen Melancholie jeder Alt-Fan der frühen bis mittleren Porcupine Tree hoffentlich ein Glückstränchen vergießen. Die Wall of Sound, der Bombast wird dann nach knapp zehn Minuten Stück für Stück mit erneut beeindruckendem Chor-Gesang gepusht, intensiviert, und wenn die dann drängende Lead-Gitarre nur noch Glückshormone durch Geist und Seele jagt, spreche ich als Fan des Musikers von einer temporären Rückkehr zum alten Porcupine-Tree-Sound. Stiller, schwebender Late-Night-Ambient beendet mit sanft jazzigen Echos das Album, und es wirkt ordentlich nach. Sicherlich ist all dies mit den neuen verspielten Mitteln, Raffinessen und Sound-Einflüssen gestaltet, die man von seinen Solo-Arbeiten kennt, aber in Sachen Stimmung, Melancholie und Dramaturgie fühle ich mich glücklicherweise sehr oft in die guten Neunziger Porcupine-Tree-Phasen zurückgebeamt.
Ich habe den Künstler 1998 kennen und lieben gelernt, Wilson erstmalig live ca. 2000 zur “Lightbulb Sun” im legendären Knaack Club in Berlin (noch mit Aviv Geffen als Special Guest) vor wenigen Nasen live erlebt. Gerade die frühen Alben erzeugten oft unter Kopfhörern das Gefühl, lost in the Universe zu sein, und glücklicherweise schafft der Brite auf dem neuen Werk dieses Gefühl hier und da so vortrefflich wiederzubeleben. Die Solo-Phase betrachte ich zugegebenermaßen auch schon immer mit etwas kritischerem Blick, aber mit “The Overview” macht er es aus meiner Sicht jedem Fan jeder Band-Phase leicht, sich im wie immer perfekt produzierten Spektakel einfach nur wohlzufühlen. Diese Platte ist Steven Wilson pur, da mit vielen selbst kreierten Flashbacks liebevoll in jede Phase des Musikers zurückgeblickt wird und sich auf seltsame Weise ein Kreis schließt. Mir hat der Musiker seinerzeit sämtliche Synapsen mit Anfang 20 geöffnet, heute, nach ‘zig Veröffentlichungen, findet sich in diesen knapp 42 Minuten alles verdichtet zusammen, was die melodiöse, den Siebzigern zugewandte Seite des Musikers entspricht. Daher geht hier nur die Höchstnote.
Bewertung: 15/15 Punkten
Diskografie (Studio-Alben):
“Insurgentes” (2009)
“Grace For Drowning” (2011)
“The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)” (2013)
“Hand. Cannot. Erase.” (2015)
“To The Bone” (2017)
“The Future Bites” (2021)
“The Harmony Codex” (2023)
Line-up:
Steven Wilson – Vocals/Guitars
Craig Blundell – Drums
Adam Holzman – Keyboards
Randy McStine – Guitars
Surftipps zu Steven Wilson:
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Rezensionen:
“The Harmony Codex” (2023)
“The Future Bites” (2021)
“Eminent Sleaze” (2020)
“To The Bone” (2017)
“Transience” (2016)
“4 ½” (2016)
“Hand. Cannot. Erase.” (2015)
“Drive Home” (2013)
“The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)” (2013)
“Grace For Drowning” (2011)
“Insurgentes” (2009)
Liveberichte:
17.07.18, Bonn, Kunst!Rasen
05./06.03.18, Essen, Colosseum Theater
15.01.16, Bochum, Jahrhunderthalle
20.03.15, Köln, E-Werk
Interviews:
Steven Wilson zu “To The Bone” (2017)
Steven Wilson zu “Hand. Cannot. Erase.”: “Living In The City In The 21st Century” (2015)