Goldene Kreise und billge Plätze
Köln und Bonn gelten schon seit vielen Jahrzehnten als Marillion-Hochburg. Konzerte in der Region sind schon oft von diversen Bandmitgliedern als etwas ganz Besonderes beschrieben worden. So ist dann bisher auch praktisch keine Marillion-, Steve-Hogarth- oder Steve-Rothery-Band-Tour ohne einen Stop in der Region ausgekommen. So auch im letzten November. Denn obwohl Marillion auf ihrer “A Tour Before It’s Christmas” insgesamt nur zwei Stopps in Deutschland einlegten, spielten sie eines ihrer Konzerte im Kölner Palladium. “Same Procedure as Every Year” möchte man da fast meinen. Nicht ganz. Denn wo alle übrigen Konzerte der Tournee schon im Vorfeld restlos ausverkauft waren, blieben die Veranstalter für den Auftritt in Mülheim am Rhein auf einem Restkontingent Karten sitzen.
Was zu diesem Umstand geführt hat, das kann nur erahnt werden. Ziemlich offensichtlich war jedoch, dass die zweigeteilte Halle unterschiedlich stark gefüllt war. Denn wo es im hinteren, größeren Teil fast kein Durchkommen gab, waren die Reihen im überteuerten Golden Circle vor der Bühne sichtlich gelichtet. Man möchte fast denken, dass dieser etwas überdimensioniert war. Nicht jeder Marillion-Fan schien willens gewesen zu sein, goldene Preise für goldene Plätze auszugeben. Was auch verständlich ist, bei einer Band, die in der Vergangenheit immer die Nähe zu ihren Fans betont hat. Letztlich ein unmöglicher Zustand. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass viele der eingefleischten Fans im hinteren Teil am Wellenbrecher feierten, während nur wenige Meter vor ihnen, im hinteren Bereich des Golden Circle, teils lautstark gequatscht wurde.
Doch genug von unbefriedigenden Rahmenumständen, denn es gab an diesem Abend schließlich auch Musik.
iamthemorning
Mit im Gepäck hatten Marillion in diesem Jahr die aus Sankt Petersburg stammende Formation iamthemorning, bestehend aus dem Pianisten Gleb Kolyadin und der Sängerin Marjana Semkina. Ein Piano, ein simpler aber atmosphärischer Backdrop, dezente Beleuchtung und ein paar kleine Kerzenständer, fertig war das Bühnenbild. Denn anders als zuletzt beim 2023er Prognosis Festival in Eindhoven, waren iamthemorning wieder in ihre Standard-Besetzung unterwegs. Also nicht als Quartett, mit Schlagzeuer und Gitarristen, sondern als Duo: Voice & Piano only, ganz so wie man es von iamthemonrning aus der Vergangenheit her kennt.
Konnten Kolyadin & Semkina während ihrer Anfangstagen den betreuenden Redakteur noch mit ihrem Chamber-Prog zu Tränen rühren, hat die Begeisterung in den letzten Jahren deutlich nachgelassen. Zu sehr ähneln sich die einzelnen Platten in ihrem Klang- und Stimmungsbild. Zu aufgesetzt wirkt das Auftreten von Sängerin Marjana Semkina. Denn hat man die Band schon ein paar Mal live erlebt, so wirken die Ansagen der Frontfrau fast wie einstudiert. Was eine seltsame Wirkung entfaltet, insbesondere, wenn Semkina über ihr Heimatland, dessen Präsidenten und ihr Exil im Vereinigten Königreich spricht. Doch wahrscheinlich tut man der Dame mit dieser Annahme Unrecht. Vielleicht ist es doch eine kleiner Rest Unsicherheit oder Lampenfieber, der nach all den Jahren nicht verschwunden ist und gerade vor einem so großen Publikum leicht wieder aufflammen kann.
Das Resultat jedoch war identisch. Eine echte Nähe, die eigentlich bei einer Band aufkommen sollte, die so eine Art von Musik spielt, war nicht zu spüren. Selbst als Marjana die Beziehung zu Marillion ansprach, von ihrem Auftritt bei der Marillion-Convention in Poznań erzählte und den Tod als zentrales Thema der Stücke beider Bands beschrieb, verblieb irgendeine Distanz zur Sängerin. So machte dann auch nur ein kleiner Teil des Publikums mit, als Semkina die Zuschauer zum Klatschen aufforderte. Der Redakteur jedenfalls konzentrierte sich viel lieber auf Gleb Kolyadins und bewunderte dessen so gefühlvolles Piano-Spiel.
Marillion
“Nur die ersten drei Stücke und kein Blitz!” lautet die Goldene Regel für Fotografen, die bei fast jedem größeren Konzert gilt. So auch an diesem Abend. Doch Marillion führten diese Regel ein wenig ad absurdum, indem sie die ersten drei Stücke knapp eine halbe Stunde dauern ließen. 30 Minuten für die persönlichen Geschichtsbücher des Redakteurs, denn die Songauswahl für diesen Auftakt gehörte zu den Besten, die dieser in den letzten 28 Jahren hatte hören dürfen:
Das monumentale ‘Invisible Man’, bei dem Frontmann Steve Hogarth als Selbstdarsteller wieder einmal über sich herausgewachsen ist, gefolgt von einem emotional wieder einmal überwältigendem ‘Easter’, bei dem es sich die Fans nicht nehmen ließen, lautstark mitzusingen und dem Gitarristen Steve Rothery zu huldigen. Sowie dem anschließenden ‘Sounds That Can’t Be Made’, bei dem Pete Trewavas in bester Poser-Laune an seinem Bass agierte. Energie, Gefühl und Leidenschaft, 30 Minuten gefüllt mit alledem, wofür die Engländer geliebt werden. Marillion par excellence. Und das Konzert hatte gerade erst angefangen…
Dass man als Fotograf nach erledigter Arbeit nicht im Golden Circle verbleiben durfte, war abzusehen gewesen. Dass man dann aber keinen guten Platz mehr ergattern konnte und im Gedränge im hinteren Drittel der Halle feststecken würde, das war so nicht geplant gewesen. Besonders traurig war, dass diese Platzfindung ausgerechnet bei ‘Beyond You’ geschehen musste, sodass das wohl bedächtigste und ruhigste Stück der Band vom Betreuer nicht einmal ansatzweise genossen werden konnte. Ein schlechter Blick auf die zu niedrige Bühne einer zu langen Halle sowie ein – verglichen mit den vorderen Reihen – suboptimaler Sound schmälerten das Konzerterlebnis dann auch während der folgenden Stücke. Willkommen auf den billigen Plätzen! ‘Map of The World’, obwohl vom Publikum im Chorus laut mitgesungen, war einfach die falsche Ballade, um das Feuer wieder anzufachen, ‘Reprogram The Gene’, vom aktuellen Album “An Hour Before It’s Dark”, war einfach noch etwas zu frisch und das heute sehr Bass-lastige ‘Lucky Man’, nach persönlichem Befinden, einfach etwas zu belanglos. Hätte man einen besseren Blick auf die wieder einmal sehr ansprechenden Video-Projektionen gehabt, das Erlebnis hätte ein anderes sein können.
Das anschließende ‘Quartz’, vom experimentierfreudigen “Anoraknophobia”, mit Passagen aus Sprechgesang und seiner unverwechselbaren Uhrwerk-ähnlichen Rhythmik, entfachte dann endlich auch wieder ganz persönlich das Feuer beim Betreuer. Dass es dann aber ausgerechnet ‘The Crow And The Nightingale’ sein würde, bei dem Marillion wieder tief ins Herz des Redakteurs vordringen würden, war bemerkenswert. Denn das Stück hatte bisher zu dessen unbeliebtesten auf ‘An Hour Before It’s Dark” gehört. Doch ein Sitzplatz auf dem Boden, in einer dunklen Ecke auf der Empore, hatte Wunder gewirkt: Was die übrigen Zuschauer auf der Bühne sehen konnten, erlebte der Betreuer mit geschlossenen Augen im Kopfkino. Ein Lied, das zuvor als Kitsch empfunden worden war, verwandelte sich endlich in pure Marillion-Magie. Ein Gefühlszustand, so überwältigend, dass er selbst vom viertelstündigen ‘Care’ und seinem emotionalen Finale ‘Angels On Earth’ nicht mehr übertroffen werden konnte.
So bedurfte es einer kleinen Zäsur und des Verlassens der Band von der Bühne, bevor der Betreuer wieder wirklich zu Sinnen kam. Ein Herzschlag vom Band hatte schon angekündigt, was nun folgen sollte, und die Vorfreude war groß: ‘Splintering Heart’ vom oft belächelten ’91er Album “Holidays In Eden”. In seiner Einschlagskraft vielleicht noch effektiver als der Auftakt mit ‘Invisible Man’, war dieses Stück wohl die perfekte Wahl für diesen Moment gewesen. Das Palladium tobte und feierte die sechs Musiker auf der Bühne. Erst recht, als Mark Kelly im Anschluss den Longtrack ‘Neverland’ auf seinem Keyboard anstimmte. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch Nimmerland. Nicht wenige Zuschauer hatten Tränen in den Augen, als Marillion und ihr Gast(?)-Perkussionist Luís Jardim hernach die Bühne verließen. Nicht aufgrund von Traurigkeit…
Doch was war das? Unter stampfenden Bässen kehrten Marillion zurück. Das Publikum war sich sofort darüber im klaren, was die Band dort aus einer Laune heraus angestimmt hatte, sodass es, ohne zu Zögern, lautmalerisch das Intro zu ‘Seven Nation Army’ intonierte. Die Halle war am Brodeln. Doch was nun folgte, war nicht etwa ein Cover von The White Stripes, sondern die musikalische Huldigung all jener Musiker und Sternchen, die ihrem Ruhm nicht gewachsen waren und viel zu früh von uns gegangen sind. So rundeten Marillion den Abend in Form von ‘King’ auf einem emotionalen Hoch ab und ließen allen Missmut über goldene Kreise und billige Plätze in Vergessenheit geraten.
Bis zum nächsten Mal, wenn es dann hoffentlich wieder heißt: “Same Procedure as Every Year”.
Fotos: Prog in Focus
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Rezensionen:
“An Hour Before It’s Dark” (2022)
“With Friends At St. David”s” (Re-Release) (2021)
“With Friends At St. David’s” (2020)
“All One Tonight – Live At The Royal Albert Hall” (2019)
“Marbles In The Park” (2017)
“F.E.A.R. (Fuck Everyone And Run)” (2016)
“Sounds That Can’t Be Made” (2012)
“Best.Live” (2012)
“Less Is More” (2009)
“The Thieving Magpie (La Gazza Ladra)” (1988/2009)
“Live From Loreley” (1987/2009)
“Recital Of The Script” (1983/2009)
“Early Stages” (2008)
“Happiness Is The Road” (2008)
“Somewhere Else” (2007)
“Marbles” (2004)
“The Best Of” (2003)
“Anorak In The UK Live” (2002)
“Anoraknophobia” (2001)
“marillion.com” (1999)
Konzert- & Festivalberichte:
07.11.22, Frankfurt am Main, Jahrhunderthalle
15.12.19, Marillion with Friends from the Orchestra, Essen, Colosseum Theater
25.07.17, Frankfurt am Main, Batschkapp
16.07.17, Sankt Goarshausen, Freilichtbühne Loreley, XII. Night Of The Prog Festival
Interview:
“Working for the Weekend: Im Gespräch mit Mark Kelly” (2022)
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Rezensionen:
“The Bell” (2019)
“Ocean Sounds” (2018)
“The Lighthouse” (2016)
Konzert- & Festivalberichte:
15.04.23, Eindhoven (NL), Effenaar, Prognosis Festival 2023
09.12.19, Dortmund, Musiktheater Piano
24.06.17, Valkenburg aan de Geul (NL), Openluchttheater, Midsummer Prog Festival 2017
Weitere Surftips:
Veranstalter: MFP-Concerts
Venue: Palladium