(22:58; ,Vinyl, CD (als “Solitaer/Gregær“), Digital, Long Branch Records/SPV, 26.08.2022)
Pink Floyds “Ummugumma” aus dem Jahre 1969, ELPs 1977er “Works 1” und jetzt, ganz aktuell, The Hirsch Effekt mit “Solitaer”. Drei Alben, die einem ähnlichen Konzept folgen: jedes Bandmitglied erhält einen zuvor definierten Rahmen, in dem es songwriterisch auf Solo-Pfaden wandeln darf. Während Pink Floyd ihren Studioaufnahmen seinerzeit eine Live-Vinyl zur Seite stellten und Keith Emerson, Greg Lake und Carl Palmer die verbliebene D-Seite ihres Albums für Gemeinschaftskompositionen nutzten, vervollständigte das Artcore-Triumvirat aus Hannover seine Vier-Track-EP durch eine Studio-Version von ‘Gregær’. Also einem Stück, das bereits 2021 in einer Orchestral-Version auf der gleichnamigen EP erschienen war. Einem Mini-Album, das diesem in der CD-Version als Bonus angehängt ist.
Bemerkenswert an “Solitaer” ist dabei, dass alle drei Solo-Stücke auffällig unauffällig klingen. Zumindest wenn man sich am bekannten Backkatalog von The Hirsch Effekt orientiert. Denn obgleich man bei ‘Palingenesis’, ‘Nares’ und ‘Amorphus’ drei ganz unterschiedliche Handschriften wahrnehmen kann, sind diese Stücke ganz eindeutig dem Hirsch-Kosmos zuzuordnen. Geboren aus der Not des Social Distancing ist “Solitaer” quasi das Gegenstück zum orchestralen “Gregær”. Denn wo The Hirsch Effekt auf dem Vorgänger noch mit anderen Musikern kooperierten, standen ihnen für die neu EP nicht einmal die eigenen Bandkollegen zu Verfügung. Zumindest nicht beim Komponieren. Und auch die Aufnahmen der verschiedenen Instrumente erfolgten räumlich voneinander getrennt. Doch obwohl “Solitaer” durch und durch The Hirsch Effekt ist, sind die vier Stücke erstaunlich abwechslungsreich geraten.
Der Opener ‘Palingenesis’ ist von den drei neuen Stücken der vielleicht typischste THE-Song, denn Bassist Ilja John Lappin vereint in seiner Komposition brachiale Härte (inklusive Blastbeats und Screamos) mit hochmelodischen, clean gesungenen Refrains zu einer archetypischen Blaupause des komplexen Bandsounds. Lediglich der Text des Stückes ist weniger gesellschaftskritisch als gewohnt, da sich der Musiker in diesem mit seiner eigenen Sinnkrise während der Corona-Zeit beschäftigt.
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Das von Nils Wittrock stammende ‘Nares’ hingegen ist ein metallisches Breitschwert wie man es in dieser Durschlagskraft bei The Hirsch Effekt nur selten erlebt. Aggressiv, groovy und ultra-brutal. Zumindest in den ersten knapp vier Minuten. Denn das Stück über “Jana aus Kassel” und die Ignoranz der Corona-Leugner gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnissen, das bis dahin keinen Platz für Melodien und Klargesang gelassen hatte, entwickelt sich in seinem letzten Fünftel zu einem schleppenden Klagelied mit psychedlischer Schlagseit. Bevor kurz vor Ende noch einmal voll auf die Zwöf gibt.
Das für The Hirsche Effekt ungewöhnlichste Stück der drei Neukompositionen ist allerdings ‘Amorphus’, denn das aus der Feder von Schlagzeuger Moritz Schmidt stammt Lied ist das Erste, bei welchem dieser auch die sämtliche Vocals übernommen hat. Musikalisch noch abwechslungsreicher als die beiden vorangegangenen Stücke zusammen, erreicht der Sechsminüter in Abgefahrenheit fast The-Dillinger-Escape-Plan-Niveau. Stilistische Brüche am laufenden Band spiegeln dabei perfekt den oft chaotischen Schlingerkurs der politischen Entscheider wieder. Doch ‘Amorphus’ ist mitnichten ein zusammenhangloses Sammelsurium verschiedener ideen, sondern funktioniert unterm Strich wohl besser als so manche Anti-Corona Maßnahme. Ganz klar der Höhepunkt dieses Extended Plays.
Bleibt als Bonus noch die Neuaufnahme des ursprünglich orchestralen ‘Gregær’. Eine Interpretation, die im neuen Arrangement zwar um einiges “hirschiger” als die ’21er Version klingt, dem großartigen Original unterm Strich aber gerade wegen dieser Gewöhnlichkeit leicht unterlegen ist.
So hat “Solitaer” zwar weniger Überraschungsmomente zu bieten, als es das Konzept hätte vermuten lassen, doch eine Enttäuschung ist die EP keineswegs. Vielmehr ist das Mini-Album eine kurzweilige Sammlung sehr abwechslungsreicher Songs, die das gewohnt hohe Niveau vorheriger Veröffentlichungen hält.Bewertung: 11/15 Punkten
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Besetzung:
Nils Wittrock
Ilja John Lappin
Moritz Schmidt
Diskografie (Studioalben):
“Holon : Hiberno” (2010)
“Holon : Anamnesis” (2012)
“Holon : Agnosie” (2015)
“Eskapist” (2017)
“Kollaps” (2020)
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Konzertbericht: 19.07.21, Köln, Freideck
Rezension “Gregær” (2021)
Rezension “Kollaps” (2020)
Konzertbericht: 10.10.20, Kaiserslautern, Kammgarn
Rezension “Eskapist” (2017)
Abbildungen: Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Oktober Promotion zur Verfügung gestellt.