Wie zehn Hiroshima-Bomben
Black Midi gehören derzeit zum ganz heißen Scheiß auf der Insel Großbritannien und neben Squid und Black Country, New Road zu den Speerspitzen der kreativen Londoner Underground-Rock-Szene. Ob man diesen jungen, experimentellen und hochenergetischen Bands nun den Titel Progressive-, Avantgarde-, Math- oder Post-Irgendwas geben möchte, ist dabei so egal wie unzureichend. Denn die jungen Wilden bedienen sich nicht nur verschiedener Stile wie Punk, Rock und Jazz. Sie sind dabei auch überaus talentiert und vermischen vor allem live technische Versiertheit und Präzision mit Inspiration bis hin zur Improvisation. Und obwohl diese Gruppen mittlerweile auch in Festland-Europa in aller Munde sind und vor allem in der Presse hochgelobt werden, treten sie noch immer auf den eher kleinen Bühnen des Kontinents auf. Die Frage ist nur, wie lange noch, denn oft sind die Spielstätten schon Wochen vor den Auftritten der Bands ausverkauft. So auch an diesem 5. Mai 2022, als Black Midi im ehemaligen Gebäude 9 der Klöckner-Humboldt-Deutz-Werke in Köln-Mülheim auftreten sind.
Sin Maldita
Danach, dass Black Midi an diesem Abend eine Vorgruppe mit im Gepäck haben würden, sah es lange Zeit nicht aus. Denn mit Sin Maldita wurde erst wenige Tage vor dem Event der Name des Openers bekannt gegeben. Ein kurzer Blick auf die Bandcamp-Seite des Künstlers löste im Vorfeld jedoch eher Schulterzucken als Begeisterung aus:
Berlin based artist conjuring hybrid club music out of earth shattering beats and soul-piercing vocal melodies.
Na ja, wieso nicht einmal etwas Stilfremdes als Kontrastprogramm? Wir sind ja progressiv eingestellt und Genre-übergreifend ausgerichtet. Warum sich also nicht einmal überraschen lassen?
Von Vocals war an diesem Abend jedoch nichts zu hören, denn Tim Roth, der Berliner Künstler, der sich hinter dem Pseudonym Sin Maldita versteckt, betrat an diesem Abend ganz alleine die Bühne. Versteckt hinter einem Stash Hat und lediglich mit einem winzig kleinen Laptop ausgerüstet. Und was daraus erklang, das ließ den Großteil des anwesenden Volkes sichtlich anteilslos und emotionslos zurück. Ob Roths raue, rein elektronische ambientartige Musik bei Club-Publikum auf größere Resonanz gestoßen wäre, das bleibt an dieser Stelle unbeantwortet. Tatsache ist jedenfalls, dass Sin Malditas Beats nicht shattering enough waren, um das Publikum auch nur ansatzweise in Wallungen zu versetzen, geschweige denn die Erde. Begeisterungsunfähigkeit, an der nicht nur die Musik Schuld trug, sondern insbesondere der Künstler selbst.
Denn Tim Roth agierte auf der Bühne so statisch, dass ein Verziehen seiner Mundwinkel den maximalen Bewegungsradius des Künstlers beschrieb. Und so sind die vorliegenden Fotografien des immer gleichen Gesichtsausdruckes aus unterschiedlichen Positionen das vielleicht spannendste, was man von diesem Auftritt mitnehmen konnte. Denn auch auf die Finger schauen konnte man dem Künstler an diesem Abend nicht. Die Hände hinter seinem kleinen Bildschirm versteckt gehalten, hätte er genauso gut eine Playlist runterlaufen lassen können. Gemerkt hätte es niemand. Und so verließen viele Zuschauer schon nach wenigen Momenten wieder die Industriehalle. Der Schreiber dieser Zeilen selbst gesellte sich nach zwei oder drei Stücken dazu.
Bewertung: 2/15 Punkten
Black Midi
Und das war auch gut so, denn für das, was folgen sollte, war Stille das beste präventive Medikament. Denn nur Ruhe konnte einem menschlichen Gehirn die Entspannung bieten, die es benötigte, mit der Reizüberflutung klarzukommen, die Black Midi bei ihrem Auftritt auslösen sollten.
Die Londoner gehören nämlich zu der Gattung von Musikgruppen, die, insofern man sie im falschen Moment hört, durch Geschwindigkeit, Komplexität und Verrücktheit, beim Hörer eine Komplett-Überforderung auslösen können. Dies kann sogar auf Liebhaber und Fans von Black Midi zutreffend sein, denn ein nervöser Brocken von Album, wie das ’21er “Cavalcade” einer ist, kann auch noch nach dem hundertsten Hören nicht nur überwältigend, sondern auch überfordernd wirken. Doch sämtliche mentalen Vorbereitungen auf diesen Auftritt waren letztendlich wie in den Wind geblasen, als Black Midi, von einer Off-Stimme hochtrabend und effekthascherisch wie die neuen Box-Weltmeister angekündigt, dann tatsächlich die Bühne betraten. Denn was Geordie Greep, Cameron Picton und Morgan Simpson gemeinsam mit ihren Tour-Musikern Seth Evans und Kaidi Akinnibi an Feuerwerk abbrannten, hatte den gefühlten Energiewert von zehn Hiroshima-Bomben.
Erstaunlich, vor allem für Menschen, die die Musiker zuvor noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Denn insbesondere den beiden Sängern Geordie Greep (Gitarre & Bass) und Cameron Pictovor (Bass und Gitarre) traute man, mit ihrer Mischung aus gewagter Retro-Mode und schüchtern-nerdiger Ausstrahlung – Stereotype bewusst nicht außen vorgelassen – nicht einmal das Erzeugen einzelner Töne zu. Ein Phänomen, dass man auf ähnliche Weise schon bei Robert Fripp beobachten konnte und bei Black Midi heute genauso irreführend war, wie seinerzeit bei King Crimson.
Ganz andere Kaliber waren da schon Schlagzeuger Morgan Simpson und Saxofonist Kaidi Akinnibi, denn das, was ihren Kollegen an Ausstrahlung fehlte, machten die beiden Rampensäue mit Charme, Aura und schierer Lebensfreude wett. Doch ob eher schüchtern oder vielmehr extrovertiert agierend, für das musikalische Erlebnis machte dies keinen Unterschied. Denn was von der Bühne auf das Publikum überschwappte, war eine Mischung aus einem reinen Wahnsinn und purer Energie. Schallwellen, die alles durchdrangen und das Publikum von der ersten bis zur letzten Sekunde in ihren Bann schlugen. Beschleunigte Versionen altbekannter Stücke, welche die Originale der Platten zu einem Schatten ihrer selbst werden ließen und die genauso neu und überraschend wirkten, wie die bisher unbekannten Stücke des im Julio erscheinenden, dritten Albums der Band: “Hellfire”. Dass an diesem Abend nicht immer jede Note saß und auch der Klang ein gutes Stück vom Optimum entfernt war, wurde so zu einer leicht übersehbaren Nebensache. Denn über solche Lappalien denkt man kaum noch nach, wenn man von der Musik voll und ganz durchdrungen und erfüllt wird.
Ein musikalisches Erlebnis, das eine solche Intensität besaß, dass man fast erleichtert sein konnte, als der Fünfer nach nur ungefähr einer Stunde die Bühne verließ. Denn wo die Musiker der totalen Erschöpfung nahe waren, drohte so manchem Zuschauer bereits ein epileptischer Anfall aufgrund extremster Reizüberflutung. Genau wie bei Sin Maldita war man auch jetzt darüber glücklich, dass es endlich vorbei war. In beiden Fällen, weil man es nicht mehr länger hätte aushalten können. Allerdings aus komplett gegensätzlichen Gründen.
Bewertung: 14/15 Punkten
Gesantwertung: 12/15 Punkten
Fotos: flohfish
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