Besser als Nichts? Besser als Nichts!
Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 ist es in der deutschen Live-Musik-Szene sehr ruhig geworden. Auflagen und Verbote haben es für viele Bands sehr schwierig oder sogar unmöglich gemacht, auf Tour zu gehen. Trotzdem stachen in den letzten anderthalb Jahren immer wieder Formationen heraus, die jede auch nur so kleine Chance dazu nutzten, live zu spielen. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei die Hannoveraner Band The Hirsch Effekt ein. Die schafften es nämlich in diesem Sommer entgegen aller Widrigkeiten schon zum zweiten Mal seit Ausbruch der Seuche eine Tournee durchzuführen. Nicht mit Orchester, wie man es ursprünglich einmal geplant hatte, sondern lediglich in der Drei-Mann-Stammbesetzung.
“Besser als Nichts Tour Part 2” war dann auch der passende Name für die Konzertreihe, denn genau wie schon im Sommer 2020 haben die Hirsche nicht einfach aus Frust das Handtuch geworfen, sondern machten das Beste aus der Situation. Ein Lichtblick für alle Freunde der experimentellen Rockmusik. Zwar waren die Reihen des Freidecks der Kölner Kantine nur mäßig gefüllt, doch tat das der Stimmung an diesem Abend keinen Abbruch. Zu lang war für die Meisten wohl schon die Konzertpause gewesen, so dass man dem Auftritt der Hirsche entgegenfieberte.
Es spricht für die Aufgeschlossenheit einer Band wie The Hirsch Effekt, wenn genrefremde Musik wie ‘Nature Boy’ der norwegischen Sängerin Aurora als Intro für den Abend gewählt wird, doch irgendwie passte die zerbrechliche Musik des Art-Pop-Stars auch ganz gut in den Kontext der experimentierfreudigen Hirsche. Auch wenn der Kontrast zu den ersten Takten von ‘Cotard’ recht heftig ausfiel. Verglichen mit dem letztjährigen Set-Opener ‘NOJA’ war der Song jedoch schon ein Kompromiss, da sich The Hirsch Effekt hier weniger von ihrer brachialen als vielmehr von ihrer progressiven Seite zeigten.
Nichtsdestotrotz wirkten die beiden Frontleute Nils Wittrock und Ilja John Lappin sowie ihr Schlagzeuger Moritz Schmidt heute noch etwas entschlossener, als noch vor einem Jahr beim Konzert im Kaiserslauterer Kammgarn, ganz so als wollte man Covid-19 den musikalischen Stinkefinger zeigen. Kompromisslos und ohne längere Ansagen ließ das Trio einfach Musik für sich sprechen. Was hätte es wohl auch sagen sollen, anlässlich der gerade über die Eifel hereingebrochenen Flutkatastrophe. So hatte man mit den Texten des letzten regulären Studioalbums ‘Kollaps’ wohl auch schon alles zum Thema Klimawandel gesagt, was gesagt werden musste. Und so war es dann auch mehr als richtig, dass das 2020er Album mit ‘AGERA’, ‘BILEN’, ‘DOMSTOL’ und ‘KOLLAPS’ mit seinen kritischen Lyrics, in vierfacher Form am häufigsten vertreten war. Obwohl das so eigentlich gar nicht richtig ist, ‘KOLLAPS’ wurde an diesem Abend in der neu eingespielten ‘Gregær’-Variante aufgeführt, nur leider ohne klassische Begleitung. Und auch das Titelstück dieser letztjährigen EP fand an diesem Abend den Weg in die Setlist, was definitiv als Bereicherung für den Live-Fundus der Hirsche gewertet werden kann.
Ansonsten gestaltete sich das Set recht ausgewogen, denn alle Alben der Bandgeschichte wurden berücksichtigt. Positiv fiel vor allem das Stück ‘Ligaphob’ vom 2012er Album “Holon : Anamnesis” auf, bei welchem sich die Hirsche anfangs von ihrer ruhigen Seite zeigten, bevor sie gegen Ende des Stückes effektvoll und kontrastreich in die Saiten greifen durften. Voller energetischer Spielfreude und souverän wie man sie kennt, spielten sich The Hirsch Effekt an diesem Abend durch ihr aus lediglich elf Stücken bestehendes Hauptprogramm, welches vom über elfminütigen Live-Klassiker ‘Mara’ gekrönt wurde. Schade, dass die Zugabe dann lediglich aus ‘Agitation’ bestand und der Abend gefühlt viel zu früh zu Ende ging.
Doch was wollte man als Zuschauer eigentlich mehr? Knapp zwei Stunden bester Unterhaltung waren allemal besser als Nichts. Auch wenn man sich vielleicht nie daran gewöhnen wird, sich ein Metal-Konzert von Biertischgarnituren aus ansehen zu müssen, anstatt sich in einem Moschpitt herumprügeln zu dürfen.
Besetzung:
Nils Wittrock (Gesang, Gitarre)
Ilja John Lappin (Bass, Gesang)
Moritz Schmidt (Percussion, Schlagzeug)
Text: Floh Fish
Live-Fotos: Chris Bretz
Setlists:
The Hirsch Effekt
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Rezension “Gregær” (2021)
Rezension “Kollaps” (2020)
Konzertbericht: 10.10.20, Kaiserslautern, Kammgarn
Rezension “Eskapist” (2017)
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Kingstar Music (Veranstalter)