The Radicant – We Ascend (EP)
(23:35; Vinyl, Digital, Kscope, 12.07.2024)
The Radicant, das neue Projekt von Vincent Cavanagh (Ex-Frontmann bei den 2020 aufgelösten Anathema), hat mit seiner im Sommer erschienenen EP definitiv einen Platz auf dieser Seite verdient. Trippig und schwermütig, verregnet und nächtlich singt uns Vinnie im Opener und Titelsong mit müdem, brüchigem Timbre entgegen. Ambient-Soundschwaden und sanfte Downbeats bereiten die Bühne, bevor ein erstes orchestrales Crescendo die Szenerie erhellt und die Spots angehen. Ein breiter, kosmischer Melodien-Teppich breitet sich aus. Die cineastische Klanglandschaft und Stimmung würden sich perfekt auf jedem starken Album von Archive oder Radiohead einfügen, während sie zugleich in den elektronisch-düsteren Momenten eines Steven Wilson nachhallen. Flirrende, gesampelte Streicher und Trip-Hop-Anleihen erzeugen Bilder von nachtflimmernden Fotografien, die in einem aufgekratzten, noisigen Crescendo verglühen. Das darauffolgende ‘Zero Blue (NSS Mix)’, das genauso gut einen festen Platz auf “Distant Satellites” hätte finden können, entfacht mit trippigen Rhythmen eine dynamische Energie auf der Tanzfläche. Ein Wirrwarr gesampelter Klangfäden wirbelt erneut durch urbane Nachtschluchten, während Vinnie mit seinen unverkennbaren Melodien eine subtile, aber tiefgehende Sehnsucht vermittelt. Diese vielseitigen Einflüsse aus Shoegaze, Drum ‘n’ Bass und cineastischer Electronica wecken Assoziationen an das Meisterwerk “You All Look the Same To Me” von Archive, insbesondere an den epischen Track ‘Finding It So Hard’. Grandios, doch leider ist der Song mit knapp vier Minuten viel, viel zu kurz.
Mit dem tristen, ambienten, mit vielen noisig shoegazigen Sounds aufgeladenen ‘Anchor’ geht es weiter. Auch hier wird gesampelt was das Zeug hält, was der Klanglandschaft eine fast sakrale Tiefe verleiht. Es entsteht eine akustische Kathedrale, die den Hörer in ihren Bann zieht. Aphex Twin in erträglicher Form trifft auf die isolationsdurchzogenen Melodien eines Thom Yorke. ‘Wide Steppe’, das mit über sechs Minuten das längste Stück der EP ist, gräbt tief und verbindet die epische Weite und Erhabenheit von Dead Can Dance mit der zerbrechlichen, außerweltlichen Anmut von Sigur Rós. Elektronische Texturen, Loops und schwermütig-sakrale Chöre drücken schwer auf die Brust und erinnern an die emotionalen Tiefen einer Band wie Isafjørd oder Jonathan Hultén – einfach nur wunderschön und berührend. Die Kombination aus einsamem Piano, dunklem Ambient und verletzlichen Vocals erzeugt im abschließenden ‘Stowaway’ ein gefühlvolles Innehalten, das den Hörer in einen Zustand stiller Verzweiflung versetzt.
Die Hoffnung bleibt, dass ein vollwertiges Album folgen wird, in das man sich völlig verlieren kann. Während die eher traditionelle, oldschoolige Seite des Anathema-Sounds mit Weather Systems’ “Ocean Without A Shore” bereits befriedigt wurde, greifen The Radicant tiefer, schürfen und experimentieren. Trotz der starken Electronica-Einflüsse bleiben die Songs zugänglich und behalten den typischen Anathema-Charakter. Vincent bleibt das zentrale Element, das akustische Schmiermittel. Seine Stimme hat Suchtpotenzial und übertrifft die eher blassen Vocals seines Bruders Danny bei weitem.
Die knapp 25 Minuten der EP liefen bei mir den ganzen Sommer über in Dauerschleife.
Es wird definitiv Zeit für eine Wiedervereinigung von Anathema!
Bewertung: 13/15 Punkten
Besetzung:
Vincent Cavanagh
Surftipps zu The Radicant:
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Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von cmm zur Verfügung gestellt.