Tippspiel mit sieben Falschen – und nur Gewinnern
Es gibt beziehungsweise gab Festivals, bei denen würde sich bezüglich des Line-up ein Tippspiel anbieten. Während der Autor beispielsweise beim Thema Fußball(-Ergebnisse) eine gewollt-ignorante Totalkatastrophe ist, hätte er etwa beim letzten NotP easy mit der Vorhersage von sieben der Bands punkten können, die dann tatsächlich auch gespielt haben. Oder beim Midwinter oder Midsummer Prog (MSP) – drei bis vier der Bands des Jahres sind im Melodic-Prog-Szenario dort jeweils quasi gesetzt, safe guesses, als beinahe zufälliges Beispiel mal Lesoir mindestens alle zwei Jahre. Beim Gloomaar Festival ist das Gegenteil der Fall. Hier haben wir das Vorab-Ratespiel schon ähnlich lange aufgegeben wie Band-Empfehlungen an die Festivalmacher (Obwohl… Wann dürfen Lorimer Burst mal ran?).
Grund dafür: Man wird im Saarland jedes Jahr aufs Neue komplett überrascht. OK, Lost in Kiev waren vermutlich “fällig”, aber das war es dann auch schon. Mit keinem der anderen Acts hatte meinereiner gerechnet – und kannte auch mal wieder recht wenige davon auch nur dem Namen nach. Es mag ein wenig damit zusammenhängen, dass die Organisatoren eine ähnlich gotteslästerlich lässige, kaum schubladisierende Auslegung von “Post Rock” wie wir von “Progressive” haben. Fein.
Glaston
Schlag 15:25 Uhr nahm Glastons hübsche Pianistin vor den Tasten Platz und die Schweizer eröffneten die diesjährigen Feierlichkeiten.
Material wie ‘I Am Whole’ oder ‘Game Of Tones’ hat tatsächlich etwas Feierliches, Klares, Aufbauendes. Und ist somit als Aufmacher ganz ausgezeichnet geeignet.
Die wunderschönen Streicherparts kamen leider nur vom Band, dafür aber wurde die E-Gitarre live schon mal mit dem Bogen gestrichen.
Zwischendurch spielten Gitarrist und Bassist im laufenden Auftritt “Backe, Backe, Kuchen”miteinander – Anzeichen dafür, dass diese Feier durchaus auch etwas Schalk verträgt. Mit ‘Ritou’ war dieser ausgesprochene Spaß leider auch schon wieder vorbei.
Einziger Kritikpunkt: Die bislang heftigste Lautstärke von allen von uns je in der Gebläsehalle erlebten Auftritten. Noch so gerade sauber, aber latent schmerzhaft. Wie gesagt – gab es so noch nie. Die Schweizer hatten ihren eigenen Mann am Soundboard, vielleicht deswegen? Eher nein, siehe unten.
Heave Blood & Die
“Spuck’ Blut und stirb’!” Na, Mahlzeit. Das in Tromsø gegründete Quintett hatte offensichtlich kaum jemand im Publikum auf dem Zettel. Wir schon mal gar nicht. Und das, obwohl man schon etliche Erfolge aufweisen kann, wie sich im Nachhinein erwies: Grammy-nominiert. Roskilde, die Talent-Goldgruben Reeperbahn und SXSW bespielt. Und mit Kvelertak getourt.
Für einen Schreiberkollegen (Der mir allerdings seit Jahrzehnen mit hervorragender Zuverlässigkeit mit seinen Auslassungen stets treffsicher daneben zu liegen scheint. Überdies stammt von ihm die grauenvollste mir bekannte Übersetzung eines Musikbuchs) ist das Doom. Wir hörten aufgekratzten Post Punk – fast alles u.a. etwa viermal schneller als das durchschnittliche Doom-Glöcklein. Na, OK, ‘Warsaw’ könnte man als hysterischen Post Doom durchgehen lassen.
In jedem Falle aber hätte der Kontrast dieses von relativ simplem, aber unwiderstehlichen Schlagzeugspiel nach vorne gepeitschten Gerase zu typischem Post-Rock-Geflirre kaum größer sein können. Insofern sah man hier erstmals viele überraschte Gesichter in der zu diesem Zeitpunkt noch überschaubaren Menge.
Line-up:
VOX & GUITAR: Karl Løftingsmo Pedersen
SYNTHS & VOX: Marie Sofie Mikkelsen
BASS GUITAR: Eivind André Imingen
GUITAR: Jonas Helgesen Kuivalainen
DRUMS: Kenneth Mortensen
El Altar Del Holocausto
Doch es sollte noch jecker werden. Vier teils doch recht korpulente spanische Gentlemen, von denen man ebenfalls noch nie gehört hatte, spielten nun im Klorollen-Look gewandet zum Post-Metal-Tanz auf.
Und das teils mit süß perlendem D-A-D Twang!
Zusammen mit den starken Melodien ergab das eine ansprechend “andere” Mixtur, die nicht nur beim Autor phantastisch ankam.
Persönliche Favoriten: ‘Love Your Enemies’ (die Band hat etliche biblisch inspirierte Titel), das symphonisch-soundtrackmäßig dramatische Medley und das alles wegballernde ‘El Silencio De Un Gesto’. Zweiter Höhepunkt des Festivals nach Glaston.
My Diligence
Die Hauptstadt-Belgier My Diligence (“Mein Fleiß”) sind ein Power Rock Trio mit Gesang. Und kein schlechtes.
Zu keinem Zeitpunkt aber hat sich dem Autor erschlossen, wie nun das ins Festivalkonzept passen sollte. Das tat es möglicherweise auch einfach nicht.
What the heck – der Mensch braucht auch mal ‘ne Pause für dies und das – auch auf ‘nem Festival.
Lost In Kiev
Die Franzosen bedienen noch am ehesten gängige Prog-Rock-Klischees (aber bedienen sie vorzüglich).
Jedenfalls nachdem sie endlich mit ihrem um 30 Minuten überzogenen Soundcheck fertig waren, währenddessen der Bassist einmal not amused einfach von der Bühne gerannt ist. Möglicherweise, weil der Gitarrist einfach das entscheidende Minütchen zu lange vor sich hin “genudelt” hat.
Und wir hatten sie grad noch vor einigen Wochen beim Pelagic Fest genossen – dort gerne nachzulesen.
The Hirsch Effekt
Draußen war es inzwischen bitter kalt geworden. Und drinnen leer. Beim Gros der Festivalbesucher dürfte das nicht daran gelegen haben, dass man die Hirsche schon so oft gesehen hat. Sondern sie als Post-Rock-Fans möglicherweise ein wenig over the top, ja zu brutal fand. Beim Autor so ein wenig von beidem, zumindest an diesem Abend.
Die bipolare Musik des Trios kann in einem Song von Blast Metal zu Ballade (dann werden die deutschen Texte kurz verständlich) umschalten. Das ist beeindruckend. Kann aber auch irgendwann als anstrengend empfunden werden.
Optischer Dauer-Gimmick während des Konzerts: Bassist und Gitarrist stellen sich immer wieder auf einen aufwärts Licht wie Nebel verbreitenden “Whirlpool” der Bühnenbeleuchtung.
Celeste
NB: Hier geht’s um die Band aus Frankreich, nicht die aus Italien und natürlich erst recht nicht um das gleichnamige Soul-Wunder…
Ähnlich verwirrt/überfordert wie Ihr jetzt möglicherweise schaute auch der verbliebene Publikumsrest auf das irre Treiben der Mannen aus Lyon mit ihren an der Stirn montierten roten “Grubenlampen”.
Das Double Bass Drum-Geballer ihres Schlagzeugers hörte man noch weit über das ehemalige Hüttenareal hinaus. Es blieb also von Anfang bis Ende die mit Abstand lauteste (und verrückteste?) Festivalausgabe bislang.
Wie ein Kugelhagel ging ein Mix aus biestigem Black Metal, räudigem Sludge und energetischem Post Hardcore auf uns herab. Überdies gab es dramatische Zuspielungen wie heulende Windgeräusche.
Später nahmen sie die Grubenlampen ab und das Bühnenlicht wechselte von blutrot zu schwarz/weiß, während im Hintergrund nicht gut erkennbare, aber dennoch verstörende Videos abliefen.
Ein starker, aber für viele der Verbliebenen zu heftiger Auftritt.
Das alles ändert aber nichts am Fazit:
Was hier wieder einmal siebenfach – nicht zuletzt an Überraschungen – für lächerliche 45€ geboten wurde, schreit vor allem nach … vielen Fortsetzungen. Long may you gloooow..!
Live-Fotos: Prog in Focus
Surftipps:
Gloomaar Festival
Impressario Tim Masson im Interview 1
Impressario Tim Masson im Interview 2
Veranstalter: Neunkircher Kulturgesellschaft
Venue: Neue Gebläsehalle
Festival Reviews:
18.11.23
19.11.22
13.11.21
16.11.19
17.11.18