Fear Of Missing Out On Music

Fear of missing out on Music…

fomo
credits: Martin Kopp

…oder was zum Teufel ist nur aus der Musik, der Industrie und aus unseren Hörgewohnheiten geworden?

Gefühlt hat sich Musik zu einem regelrechten Wegwerfprodukt entwickelt. Streamingdienste wie Spotify tischen uns regelmäßig neue Songs, Alben, Bands und Künstler auf. Musik ist im Gegensatz zu früher nun ständig verfügbar. Mit nur einem Klick. Es gibt nun auf die persönlichen Hörgewohnheiten zugeschnittene Playlists. Man hört sich schnell durch, dann hechtet man weiter.

 

Die Schlagworte der heutigen Musikhörer-Generation könnten lauten:

“Skiptaste”, “5 Sek.-vor-Button”, “Shuffle-Play”, “Nächster Titel”, “vorgeschlagenes Video”, “Release Radar”, “Könnte-Dir-auch-gefallen”, “Andere hörten auch”, “Basierend auf deinen Höhrgewohnheiten”, “Like-Button”, “Favoriten-Button”…

Ein denkbares Szenario so:

Ein Album gefällt nicht sofort? Keine Zeit verschwenden und beim Nächsten rein klicken.
Besser? Ja, schon besser. Schön, es mal gehört zu haben.
Aber die Band XYZ hat ja auch was Neues? Mist, das Navi zeigt nur noch 10 min. an. Die Autofahrt ist gleich vorbei.
Dann mal schnell durch skippen.
Intro zu lange. 15 sek vor.
Ah, die Strophe, ganz nett. 15 Sek. vor.
Lahmer Refrain, weiter!
Angekommen. Autoradio aus.
Hm, dann klimpern die Songs halt in meinen In-Ear Kopfhörern, während ich nebenbei irgendwelche anderen Tätigkeiten wie Abwaschen, Joggen oder Hämorrhoidenpflege betreibe.

Ey…Hilfe!
Von 7 Uhr bis 19 Uhr begleitet einen durchweg Musik. Irgendeine Musik. Immer rauf auf die Birne. Hauptsache es dudelt. 
Na ja, ganz so schlimm ist es bei den meisten wohl nicht. Aber ganz sicher erkennt sich ein Teil darin wieder.

Wessen Realität ist das? Wer fühlt sich angesprochen? Wer hat denn das letzte Mal ein Album gehört und sich nur dafür ganz achtsam Zeit genommen?

Ich glaube, dass unsere Hörgewohnheiten regelrecht verkrüppelt sind. Wir haben sogenannte Musik-Fomo (Fear of missing out) entwickelt. Wir haben Angst, irgendeinen neuen Song nicht rechtzeitig zu hören, um “dabei” zu sein, mitreden zu können. Wir brauchen ständig neuen Input. Erwarten Innovation von den Künstlern und wollen uns das Hörerlebnis nicht erarbeiten, indem wir uns die Zeit dafür nehmen.
Damals ging man noch in ein Geschäft und hörte sich die Tonträger vor dem Kauf an. Dann schätzte man ab, ob man Album A oder B kauft. Musik war so was wie eine Investition. Man erwarb eine Platte und beschäftigte sich nachhaltig damit. Man schluckte sie nicht einfach schnell runter und kaufte die nächste Scheibe. Sitzen, Hören, Texte lesen…man versuchte die Musik und seine Message zu verstehen. Es waren Grenzen gesetzt. Es gab kein wirkliches Übermaß. Jedenfalls nicht für den Otto-Normal-Verdiener.

Leider ist das aber heute scheinbar so gewollt, die Songs werden immer kürzer, kommen schneller auf den Punkt, um einen bei der Stange zu halten, damit man möglichst so lange streamt (30 Sekunden bei Spotify), dass der Künstler dafür bezahlt wird (wenn auch schäbig). Das ist die Realität. Nichts anderes als Hörzeit zählt mehr. Die Musik selber verliert an Wert. Zudem nerven die Streaminganbieter regelrecht mit Werbung. Wie oft wollen sie einem noch sagen, dass das neue Album in 342:34:54 (hh:mm:sec) erscheint und mich auf jeder erdenklichen Seite des Portals mit einem Banner darauf aufmerksam zumachen? Ebenso sind die kurzen Pseudo-Videoclips die an Reels erinnern und wie richtige Musikvideos wirken wollen, alles andere als passend. Es stimmen nichtmal Text und Bild überein. Will man die Instagram/TikTok Generation, die wohl gewohnterweise eine visuelle Befriedigung braucht, damit stillen (wortwörtlich wie die Mutter ihr Kind)?

Das beißt sich aber mit mancher Art von Alben. Es gibt welche, die sind extrem fordernd. Nehmen wir uns keine Zeit dafür, erschließen sie sich uns nicht wirklich. Wie beispielsweise die Emotionen, die vermittelt werden sollen oder eben das Konzept des Künstlers.
Da könnte man Miles Davis’ “Bitches Brew” nennen. 94 Minuten fordernde Tonschlacht. Die muss man sich regelrecht erkämpfen. Das fordert Zeit und Ruhe, aber dann öffnet sich das zuvor unhörbare Werk einem erst richtig.
Man könnte noch viele Beispiele nennen. Im Prog-Rock könnte es Yes “Tales from Topografic Oceans” sein und im Metal Dream Theaters “Metropolis Pt.2”. Letzteres ist eine Wucht, wenn man die Texte und das cineastische Konzept auf sich wirken lässt. Am Ende haben sie eines gemeinsam, nämlich dass sie nicht als Fast Food funktionieren. Aber wollen wir solche Werke überhaupt noch? Sollen sich Künstler überhaupt noch die Mühe machen? Bitte, ja! Auf jeden Fall! Schnelle Befriedigung ist gut. Aber nicht langfristig. Es darf auch mal sinnlich zugehen.

Leider muss man auf der anderen Seite aber auch mal an die Künstler selber appellieren und sie bewusst dahingehend kritisieren, wenn sie sich mit neuem Output fast überschlagen. Bleiben wir hierzu mal im Prog. Neal Morse, eine Songwriting-Maschine, wie sie man sie selten sieht. Aber sein unfassbar hoher Output von Alben wirkt auf manche schon nahezu karikaturhaft und hat zum Teil sogar Groschenromancharakter. Andere verzichten sogar auf das Albumkonzept und konzentrieren sich nur noch fast allein auf Singles. Da erscheint ein Album über das ganze Jahr verteilt in kleinen Häppchen. Diese lassen sich gut bewerben und verlangen vom Hörer keinen allzu großen Zeitaufwand. Zudem bleibt man viel länger als Künstler up to date und angesagt. Ein gemachter Hype um sich selber.

Bei BetreutesProggen.de sind wir selber zum Teil dazu verdammt, dass wir der Musik an manchen Tagen schon hinterherrennen müssen. Hier noch schnell eine Wertung, eine schmissige Headline oder mal eben ein 1,5 Stunden-Werk durchgehört. Dann wollen auch noch die sozialen Medien bedient werden. Man ist nah dran, die eigentliche Funktion von Musik, das Entstehen von Emotionen, nicht mehr erleben zu können. Das bringt der Dienst des Musikreporters nun mal mit sich, man arrangiert sich dann irgendwie. Dafür muss man sich dementsprechend aber auch mal bewusst zurücknehmen und sich den ständig neuen Reizen entziehen.
Vielleicht doch mal eine altbekannte Platte auflegen und sich ganz entspannt in die Musik hinein legen. Und wenn die sich wöchentlich aktualisierende Spotify Release Playlist dann ein ungehörtes Dasein fristet, ist es egal, denn Musik altert und stirbt nicht. Ob man sie rechtzeitig gehört hat oder nicht, ist unwichtig.