Sepultura, Jinjer, Obituary, 06.11.24, Esch-Uelzecht (LU), Rockhal Box
Celebrating Life Through Death
Nach vier Jahrzehnten im Musikzirkus präsentieren Sepultura derzeit das voraussichtlich letzte Kapitel ihrer Bandgeschichte: eine ausgiebige Tournee unter dem Titel “Celebrating Life Through Death” zum 40-jährigen Bestehen der Band aus Belo Horizonte. Eine Truppe, die zwar nicht wirklich Prog-relevant ist, aber dennoch, zumindest mit ihren Alben aus den frühen 90ern, die noch zusammen mit Max und Igor Cavalera eingespielt wurden, großen Einfluss auf die erweiterte Prog-Metal-Szene hinterlassen hat. Bands wie etwa Gojira, Dvne oder auch Jinjer würden ohne die Brasilianer heute wohl ganz anders klingen, falls sie überhaupt existieren würden. Apropos Jinjer: Den Ukrainern kam auf dieser Gastspielreise die Ehre zu, Sepultura zu supporten – und das an prominentester Stelle im Billing, vor dem Opener Jesus Piece (die wir leider verpassten) und der mittlerweile ebenfalls seit 40 Jahren aktiven Florida-Death-Metal-Legende Obituary.
An diesem Abend mit mir unterwegs, war übrigens mein guter Freund Christian (CS), der bis zum Ausstieg Max Cavaleras großer Fan von Sepultura war und die Band danach aus dem Blick verloren hat. Obituary waren ihm Anfang/Mitte der 90er wohl etwas zu hart gewesen und von Jinjer hatte er bis zum Konzerttag noch nie etwas gehört gehabt.
Umso gespannter war ich auf seine Eindrücke von den Auftritten, die Teil dieses Reportage sind.
Obituary
Cool zu sehen, wie sich die Musikwelt entwickelt hat. Was früher als extrem galt, ist heute harter Rock ’n’ Roll. Die Jungs haben es echt noch drau!
CS
Ganz genau, Christian. Das war auch mein Eindruck.
Obituary kamen für mich früher, als ich Anfang der 90er erstmals mit Metal in Berührung kam, immer direkt hinter Cannibal Corpse und Morbid Angel – drei Death-Metal-Bands, die alle für Härte und Extremität sowie übelste Growls standen.
Wie sich die Wahrnehmung dann über die Jahre doch verändert hat. Und eben auch der Metal an sich.
So machten die beiden Tardy-Brüder und ihre drei Mitstreiter auf mich eher den Eindruck einer deftigen Thrash-Metal-Band, was insbesondere an den Gitarrenriffs lag. Aber auch John Tardys Gesang hatte ich ganz anders in Erinnerung. Growls gab es von ihm nur selten zu hören (wie etwa in ‘Dying Of Everything’). Stattdessen vernahm man kräftige Shouts, was dazu führte, dass man fast alle Texte verstehen konnte.
Leider wirkten Obituary, bis auf Frontmann John Tardy und seinen Bruder Donald am Schlagzeug, ein wenig statisch. Der Show allerdings tat das keinen Abbruch, da der druckvolle Oldschool-Metal absolut ausreichend war, um gut zu unterhalten.
FF
Jinjer
Wo zur Hölle kommen bei diesem zarten Wesen diese beängstigenden Geräusche her? Der Wechsel vom Gesang zum Growlen erfolgte so schnell und unvermittelt, dass man auf der Bühne vergeblich nach einem zweiten Sänger suchte.
CS
Tja, mein Lieber. Diese Frage hat sich wohl schon jeder einmal gestellt, wenn er sie zum ersten Mal live gesehen hat. Die Dame ist schon beeindruckend. Wie sie gleich zu Beginn bei ‘Still Stay Roll Over’ während einer einzigen Textzeile fließend, ohne jegliche Pausen, von cleanem Gesang zu Growls und wieder zurückwechselte, das war schon einzigartig.
Die Ukrainer fand ich an diesem Abend übrigens weniger beeindruckend als bei vergangenen Konzerten. Was allerdings weniger am Sound oder dem Bühnengebaren der Band lag – Tatiana wickelte einen mit ihrer Ausstrahlung gleich wieder um den kleinen Finger –, sondern vielmehr an der seltsamen Songauswahl. Wo blieben die ganzen Kracher? Wo beispielsweise ‘Pisces’, ‘I Speak Astronomy’ oder auch ‘Vortex’? Und was zum Teufel hatte ‘Rouge’ an letzter Stelle zu suchen?
Man konnte fast den Eindruck gewinnen, als hätten Jinjer versucht, es einem Sepultura- und Obituary-Publikum recht zu machen. Wobei die Rechnung dann sogar aufzugehen schien. Im Pit war (für Escher Verhältnisse) ordentlich was los, und lautstarke Jinjer-Jinjer-Rufe waren schon während des Sets unüberhörbar.
FF
Sepultura
Die Demontage des Erbes der Cavalera-Brüder: Man hatte das Gefühl, es mit einer Sepultura-Coverband zu tun zu haben, wenn man die neueren Platten der Band nicht kannte.
CS
Hey, hey, mal langsam mit den jungen Pferden! Dein Statement finde ich jetzt schon etwas krass, v. a., wenn man deine Begeisterung während des Konzerts mitbekommen hat. Dass Max und Igor nicht mit dabei waren, klar, das hat man bei den alten Stücken gemerkt. Beim Gesang allerdings deutlich gravierender als beim Schlagzeugspiel, da der gerade erst zur Band gestoßene, erst 22 Jahre alte Greyson Nekrutman einen extrem tollen Job gemacht hat.
Was Sänger Derrick Green angeht: Sein Stil ist natürlich Geschmackssache und unterscheidet sich deutlich von dem Max Cavaleras – was wohl auch der Hauptgrund war, warum wir beide Sepultura so lange aus den Augen verloren haben – gehört aber seit Jahren genauso zu Sepultura wie das Amen in der Kirche.
Trotzdem klang die Band in meinen Ohren unverkennbar nach Sepultura, was in erster Linie dem prägenden Gitarrenspiel von Andreas Kisser zu verdanken war. Was meiner Meinung nach aber tatsächlich im Sound der Brasilianer fehlte, war ein zweiter Gitarrist – wie sie ihn früher hatten. Außerdem muss man festhalten, dass Kisser gegenüber Green der definitiv bessere Frontmann ist. Denn immer, wenn der Gitarrist am Mikrofon stand, um eine Ansage zu machen, konnte man eine echte Verbindung zum Publikum spüren, was beim Sänger leider nur ansatzweise der Fall war.
Was die Setlist angeht, so haben mich Sepultura übrigens voll abgeholt, auch wenn ich nur wenige Stücke der Derrick-Green-Ära kannte. Vor allem die Abfolge der Lieder fand ich besonders gelungen: Angefangen beim vom Tape kommenden Titãs-Song ‘Policia’, den Sepultura seinerzeit für den “Demon Knight”-Soundtrack gecovert hatten, über den fulminanten Einstand mit ‘Refuse/Resist’, ‘Territory’ und ‘Slave New World’ bis hin zum krönenden Abschluss mit ‘Rattamahatta’ und ‘Roots Bloody Roots’. Super fand ich auch, dass man nach dem Einstieg mit dem “Chaos A.D.”-Triple vorwiegend auf Stücke aus den Jahren ab 1997 setzte, einmal abgesehen von den beiden “Roots”-Tracks ‘Attitude’ und ‘Breed Apart’. Abgeschlossen wurde dieser erste Teil vom fetten Doppel bestehend aus ‘Choke’ und ‘False’, bevor man im Anschluss vornehmlich ein Greatest Hits der ersten vier Alben präsentierte. Das zwischendurch eingestreute Motörhead-Cover ‘Orgasmatron’ sowie ‘Agony Of Defeat’ vom 2020er “Quadra”-Album fügten sich dabei überraschend gut neben Klassikern wie ‘Escape The Void’, ‘Troops Of Doom’ und ‘Inner Self’ ein. Zudem präsentierten Sepultura eine in Erinnerung bleibende Version von ‘Kaiowas’, die, zusammen mit den Musikern der anderen Bands, als Live-Jam-Session gestaltet wurde. Begeistert hiervon zeigten sich v. a. die Tardy-Brüder, die auch im Anschluss noch im Hintergrund der Bühne verweilten und zu ‘Dead Embryonic Cells’ Air-Drums spielten. ‘Arise’ war dann der ultimative Abschluss dieser Frühphase der Band, bevor die Band ihr Publikum mit den schon eingangs erwähnten, von Tribal-Sounds dominierten ‘Rattamahatta’ und ‘Roots Bloody Roots’ in Ekstase trieb. Auf Zugaben verzichtete man leider, aber was hätte nach diesen beiden Klassikern auch noch folgen sollen?
Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich es zur Jubiläums- und Abschiedstour dann endlich doch einmal zu Sepultura geschafft habe. Ja, natürlich klangen die alten Stücke anders als auf Platte, aber eine Demontage des Cavalera-Erbes war dieser Auftritt bestimmt nicht gewesen. Und da ich die Band auch nie zusammen mit Max und Igor erleben durfte, erübrigten sich für mich auch jegliche Vergleiche.
FF
Fotos: Prog in Focus
Gastkommentare: Christian Storck
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11.04.03, Köln, E-Werk
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“Live In Los Angeles” (2024)
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02.10.21, Köln, Essigfabrik, Euroblast 2021
23.11.19, Köln, Gebäude 9
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