Archive – You All Look The Same To Me / Noise (Reissue)
(Vinyl (5LP Box), 2CD, Digital; Dangervisit/[PIAS], 12.03.2002, 23.03.2004/08.11.2024)
Ganze 22 Jahre ist es nun her, dass sich das britische Musiker-Kollektiv Archive mit “You All Look The Same To Me” aus dem für sie viel zu engen Korsett des Trip Hop befreite. Das Projekt um die beiden kreativen Köpfe Darius Keeler und Danny Griffiths wurde fortan oft in einem Atemzug mit anderen experimentellen Bands dieser Zeit genannt. Genau wie Radiohead, Sigur Rós, Mogwai oder auch Godspeed You! Black Emperor wurden Archive plötzlich wahlweise dem Progressive Rock, dem Art Rock bzw. dem neu kreierten Begriff des New Artrock zugerechnet. Vor allem der gut 16-minütige Longtrack ‘Again’ hinterließ bei vielen Hörern progressiver Musik offene Münder, sodass Archive – neben Porcupine Tree – von mancher Journalie schon als die neuen legitimen Nachfolger Pink Floyds gehandelt wurden. “Großwesir” Sal Pichireddu schätzte “You All Look The Same To Me” in seiner Rezension für unser Vorgängermedium “Progressive Newsletter” seinerzeit etwas vorsichtiger und realistischer ein, womit er ganz richtig liegen sollte:
Eines der wichtigsten Alben des Jahres, weil es der erstarrenden Szene einen Impuls von Außen geben und weil es gleichzeitig neue Freunde für elaborierte Rockmusik gewinnen könnte.
Doch nicht nur in Prog-Kreisen schlug “You All Look The Same To Me” mit der so charakteristischen melancholischen Stimme Craig Walkers große Wellen; selbst bis in die Massenmedien drangen Archive mit ihrem Crossover aus Alternative Rock, Trip-Hop und Art Rock vor, sodass insbesondere das Stück ‘Again’ noch heute immer wieder in Soundtrack diverser Fernsehproduktionen auftaucht. Zwei Jahre später erschien mit “Noise” dann ein Album, das musikalisch in eine ähnliche Kerbe schlug. Noch immer dem Prog bzw. Art Rock zurechenbar, verabschiedeten sich Keeler und Griffiths mit Album Nummer vier allerdings noch weiter vom Trip-Hop und näherten sich immer mehr dem Alternative Rock an, was Ex-Kollege Kristian Selm in seiner Kritik des Albums wie folgt beschrieb:
Die Soundspielereien sind weniger geworden, technoide Stampfrhythmen fast gänzlich verschwunden, die hypnotischen, atmosphärischen Parts haben nicht mehr die offensichtliche Präsenz. Geblieben ist dafür das gekonnte Wechselspiel aus sehr ruhigen Nummern, sowie rockigeren, sich langsam entwickelnden Material. Die Rockkomponente ist jedoch dieses mal ausgeprägter, Gitarre und kaputte Sounds stehen viel mehr im Vordergrund, was dem Album vom Grundsatz her einen modernen Alternative Rock Anstrich verleiht.
“Noise” hat heute vielleicht nicht den gleichen Stellenwert wie “You All Look The Same To Me”, aber zumindest das Stück ‘Fuck U’ erlangte Jahre später einen gewissen Ruhm, als Placebo es für die B-Seite ihrer Single ‘Ashtray Heart’ coverten.
Bis heute sind “You All Look The Same To Me” und “Noise” die in der Prog-Szene beliebtesten Langspielplatten von Archive, was wohl in erster Linie daran liegt, dass Keeler und Griffiths ihren Stil in den folgenden Jahren mit jedem neuen Album weiterentwickelten. Doch auch personelle Wechsel im Kollektiv führten zu Unmut in der Szene: Während der Gesang von Craig Walker auf dem 2006er “Lights” von vielen schmerzlich vermisst wurde, sorgte das erneute Engagement von Rapper Rosko John, der bereits auf dem ’96er Debüt “Londinium” zu hören war, beim Konzeptalbum “Controlling Crowds” für starke Irritationen. Archive waren ihrem Ansatz nach einfach zu progressiv, um dauerhaft dem Progressive Rock zugerechnet werden zu können. Das änderte allerdings nichts daran, dass “Noise” und insbesondere “You All Look The Same To Me”, aber auch “Controlling Crowds” trotz Roskos Rap-Einlagen auch heute noch, sowohl bei Archive-Fans als auch in der Prog-Szene, einen hohen Stellenwert haben.
So war es vielleicht unumgänglich, dass das Kollektiv mit “You All Look The Same To Me” und “Noise” noch einmal auf Tour gehen würde. Die Freude war groß, als Archive für das Frühjahr 2025 eine Tournee ankündigten, bei der diese beiden Alben in voller Länge gespielt werden sollen. Doch nicht nur das: Auch “Controlling Crowds” und “Controlling Crowds Part IV” sollen die gleiche Würdigung erfahren, in denselben Hallen an aufeinanderfolgenden Tagen. Und als ob das nicht schon Fanservice genug wäre, kündigte man gleichzeitig die Veröffentlichung zweier Deluxe-Vinyl-Boxen und zweier Doppel-CDs an, die zum einen “You All Look The Same To Me” und “Noise” zusammenfassen, und zum anderen “Controlling Crowds” und “Controlling Crowds Part IV”, die bisher noch nicht auf Vinyl veröffentlicht worden waren.
Leider konnten diese Boxsets von uns noch nicht inspiziert werden. Doch zumindest eine digitale Bemusterung zu “You All Look The Same To Me / Noise” steht uns bereits zur Verfügung. Anders als bei den Vinyl-Boxen, die neben Reissues der beiden Doppel-LPs auch eine Bonus-LP mit bisher unveröffentlichten Stücken beinhaltet, sind die unbekannten Stücke bei der CD-Variante jeweils ans Ende der zwei Silberlinge gestellt worden. “You All Look The Same To Me” verfügt dabei über zwei Bonus-Tracks: ‘My Last’ klingt dabei sehr oldschool und trip-hop-lastiger als die Stücke, die es letztendlich auf “You All Look The Same To Me” geschafft haben. Gleichzeitig aber entlarven Stimme und Akustikgitarre den Track ganz eindeutig als Produkt der Craig Walker-Phase, genau wie dessen Dynamik, die ihn trotz seiner lediglich fünf-minütigen Länge wie einen Longtrack wirken lassen.
Das sehr experimentelle ‘Personal Army’ hingegen klingt wie ein Stück, das auch auf einer der jüngeren Archive-Platten hätte stehen können, was wohl daran liegt, dass es sich hier tatsächlich um einen neuen Track handelt, der lediglich auf alten Ideen aufgebaut worden ist.
The track was started back in 2004 and then written this year, picking up the pieces from previous sessions when “Noise” was being made, so it brings together the band from back then into the present collective of 2024!
Ob Craig Walkers Gesangspart auch während dieser Zusammenkunft entstanden ist oder ob es sich dabei um alte Aufnahmen handelt, bleibt leider im Unklaren, genauso wie die Frage, ob der Sänger im nächsten Jahr bei den Live-Aufführungen des Kollektivs mit dabei sein wird.
Die “Noise”-CD hingegen wurde mit vier Bonus-Tracks bedacht: ‘I Don’t Care’ dürfte dabei schon manch einem bekannt sein, da es schon seit mehr als zehn Jahren im Netz herumgeistert. Es ist ein trauriges Lied, dessen Spannung dadurch entsteht, dass hier Keyboards und zarter Gesang auf monotone Rhythmen und Distortion-Sounds treffen. Bei dem sehr elektronischen ‘Let Me Burn’ handelt es sich um einen sehr untypischen Archive-Song für die frühen Nullerjahre, was wiederum sehr interessant ist, da aus der Craig-Walker-Phase ansonsten nicht viel Tanzbares von Archive existiert.
Das sehr treibende ‘Rabbit Hole’ hingegen ist so etwas wie ein Vorgriff auf das 2022 erschienene “Call To Arms And Angels”, wobei der Quasi-Instrumentaltrack den Charakter eines Song-Fragments bzw. eines Soundtrack-Beitrages aufweist – ein Charakteristikum, das noch stärker auf ‘Upside Down’ zutrifft, denn obwohl das Stück eine Spielzeit von über fünf Minuten aufweist, handelt es sich hier eigentlich nur um künstlich aufgeblähte Ideen.
Die bisher ebenso unveröffentlichten Stücke ‘Run’ und ‘Laying Alone’ sind leider nur exklusiv auf der Bonus-LP des Vinyl-Boxsets enthalten, sodass sie von uns bisher noch nicht gehört werden konnten.
Andere, schon veröffentlichte Tracks, wie etwa ‘Absurd’, ‘Junkie Shuffle’, ‘Sham’ und ‘Men Like You’ oder das zusammen mit Terry Hall live eingespielte The-Specials-Cover ‘Gangsters’, die allesamt bereits auf früheren Versionen von “You All Look The Same To Me” oder “Noise” als Bonus-Tracks vorhanden waren, sucht man in dieser Box leider vergeblich.
Ob zwei wirklich gute – ‘My Last’ und ‘Personal Army’ – zwei nette – ‘I Don’t Care’ und ‘Let Me Burn’ – sowie zwei unausgegorene Stücke nun wirklich Grund genug dafür sind, sich “You All Look The Same To Me” und “Noise” ein zweites, ja vielleicht sogar ein drittes Mal auf CD zuzulegen, das ist eher grenzwertig. Als Downloads hingegen machen diese Neuaufnahmen natürlich Sinn. Was die Vinyl-Box dagegen angeht, sind acht unveröffentlichte Bonustracks natürlich eine Hausnummer. Dass frühere Bonustracks allerdings nicht berücksichtigt worden sind, hinterlässt schon einen faden Beigeschmack.
Übrigens: Die remasterten Reissues von “You All Look The Same To Me” und “Noise” sind auch einzeln auf Doppel-Vinyl erhältlich – allerdings ganz ohne Bonustracks.
Ohne Bewertung
Tracklist CD:
“You All Look The Same To Me”
01. ‘Again’ 16:20
02. ‘Numb’ 5:47
03. ‘Meon’ 5:44
04. ‘Goodbye’ 5:39
05. ‘Now And Then’ 1:23
06. ‘Seamless’ 1:43
07. ‘Finding It So Hard’ 15:33
08. ‘Fool’ 8:29
09. ‘Hate’ 3:44
10. ‘Need’ 2:28
11. ‘My Last’ 5:14
12. ‘Personal Army’ 5:59
“Noise”
01. ‘Noise’ 6:44
02. ‘Fuck U’ 5:14
03. ‘Waste’ 9:58
04. ‘Sleep’ 6:51
05. ‘Here’ 1:03
06. ‘Get Out’ 4:30
07. ‘Conscience’ 4:17
08. ‘Pulse’ 4:50
09. ‘Wrong’ 0:57
10. ‘Love Song’ 6:21
11. ‘Me And You’ 8:00
12. ‘I Don’t Care’ 4:45
13. ‘Let Me Burn’ 4:48
14. ‘Rabbit Hole’ 3:47
15. ‘Upside Down’ 5:26
Tracklist Vinyl-Boxset:
“You All Look The Same To Me”
A1 ‘Again’ 16:20
B1 ‘Numb’ 5:47
B2 ‘Meon’ 5:44
B3 ‘Goodbye’ 5:39
C1 ‘Seamless’ 1:43
C2 ‘Finding It So Hard’ 15:33
D1 ‘Now And Then’ 1:23
D2 ‘Hate’ 3:44
D3 ‘Fool’ 8:29
D4 ‘Need’ 2:28
“Noise”
E1. ‘Noise’ 6:44
E2. ‘Fuck U’ 5:14
F1 ‘Waste’ 9:58
F2 ‘Sleep’ 6:51
F3 ‘Here’ 1:03
G1 ‘Get Out’ 4:30
G2 ‘Conscience’ 4:17
G3 ‘Pulse’ 4:50
H1 ‘Wrong’ 0:57
H2 ‘Love Song’ 6:21
H3 ‘Me And You’ 8:00
“Bonus-LP”
I1 ‘I Don’t Care’ 4:45
I2 ‘Laying Alone’
I3 ‘Let Me Burn’ 4:48
I4 ‘My Last’ 5:14
J1 ‘Personal Army’ 5:59
J2 ‘Run’
J3 ‘Upside Down’ 5:26
J4 ‘Rabbit Hole’ 3:47
Diskografie (Studioalben):
“Londinium” (1996)
“Take My Head” (1999)
“You All Look The Same To Me” (2002)
“Michel Vaillant” (2003)
“Noise” (2004)
“Lights” (2006)
“Controlling Crowds” (2009)
“Controlling Crowds – Part IV” (2009)
“With Us Until You’re Dead” (2012)
“Axiom” (2014)
“Restriction” (2015)
“The False Foundation” (2016)
“25” (2019)
“Call To Arms And Angels” (2022)
“Super8” (2022)
“Voleuses (Musique Du Film Netflix)” (2023)
Surftipps zu Archive:
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Rezensionen:
“Voleuses (Musique du film Netflix)” (2023/2024)
“Super8” (2023)
“Call To Arms & Angels” (2022)
“Versions: Remixed” (2020)
“Versions” (2020)
“25” (2019)
“Noise” (2004)
“You Look All the Same To Me” (2002)
Interviews:
Darius Keeler About “Call To Arms & Angels”, Genres, Influences & Red Lines (2022)
Darius Keeler über “Call To Arms & Angels”, Genres, Einflüsse und Rote Linien (2022)
Liveerichte:
17.11.23, Esch-Uelzecht (LU), Rockhal Club
26.10.23, Wiesbaden, Schlachthof
31.10.19, Köln, E-Werk
Abbildungen:
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von [PIAS] zur Verfügung gestellt.