Marcus Schinkel’s and Johannes Kuchta’s Voyager IV, 24.10.24, Bonn, Harmonie

Vom Rheingold, den Rheintöchtern und inneren Ungeheuern



Marcus Schinkel ist studierter Jazz- und Klassikpianist (Masterclasses bei Richie Beirach, Lee Konitz, Philipp Catherine, Jasper van’t Hof und Walter Noris, Pianist im Bundesjazzorchester unter Leitung von Peter Herbolzheimer u.v.m.). Das Marcus Schinkel Trio erweitert Grenzen im Jazz. Johannes Kuchta ist ein hoch angesehener Gehirnchirurg. Und hat bereits fünf Alben veröffentlicht. Beide müssen also, wie man so schön sagt, niemandem mehr irgendetwas beweisen. Traten aber an diesem Abend gleich wieder einmal live den Beweis an, dass sie zu Deutschlands virtuosesten, ausdrucksstärksten und dabei sympathischsten Musikern gehören…“
Ready for stage time.
Im Hintergrund: Harmonie-Boss Bert Jakwerth

Gemeinsam mit ihren großartigen Spieß- und Spielgesellen Wim de Vries (drums) und Fritz Roppel (bass) sind sie eben auch Voyager IV. Der Prog-Fan, der rheinische gleich gar, ist allerspätestens durch ihre auf sowohl Mussorgskys Originalwerk wie auch auf der Bearbeitung von Emerson Lake & Palmer beruhenden Anverwandlungen auf das Projekt aufmerksam geworden. Das dazugehörige Album “Pictures At An Exhibition” (2019) hat beim Bundeswettbewerb für Rock- und Popmusik des Deutschen Rock- & Pop-Muikerverbands e.V. so mal eben den ersten Preis in der Hauptkategorie gemacht – ohne eine einzige Gitarre, wie das Projekt gerne betont. Und wie es nun auch ihr Laudator erwähnte.

Laudator?!? Richtig gelesen. Das denkwürdige Ereignis wurde stilecht durch einen Conférencier eingeleitet! Mit einer Würdigung der Musiker selbst, der Videokunst von Lieve Vanderschaeve, der Lichtkunst von Niklas Kaupert und den Künsten des Soundmannes der Harmonie. Sowie des Umstandes, dass wir der Präsentation der Musik eines noch unveröffentlichten Albums („Rheingold“) beiwohnen durften. Weltpremiere in Bonn-Endenich sozusagen. Und warum noch unveröffentlicht? “Da gibt es tatsächlich mehrere Optionen. Die Band weiß noch nicht, ob “Rheingold” auf Melodic Revolution Records oder auf Real World Records erscheinen wird“ (Die “Pictures …” war ja auf MRR veröffentlicht worden. Und das “Rheingold” wurde in Peter Gabriels legendären Real World-Studios in Bath aufgenommen, u.a. aufgrund des dort auftischenden französischen Sternekochs, wie der Frack-bewandete Marcus (wie ihn stelle ich mir ja ehrlich gesagt E.T.A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler vor) feixend einwirft. Gekrönt wurde das Ganze von einem perfekt zum Thema des Abends passenden Gedicht – der Adaption des Vortragenden von Heinrich Heines Ode auf die Loreley und ihre todbringenden Frisierkünste. Und ihre Schönheit.

Und dann ging es los. Die Projektionen auf dem Backdrop hinter der Bühne feierten Vater Rhein ebenso wie die nun anhebende Ouvertüre zwischen Genesis und Richard Wagner das taten (Danke fürs Soufflieren, Marcus, diesen elffachen Anspielungsreichtum hätte ich alleine trotz Musik im Abi nicht hinbekommen!).

Von Marcus’ Piano balladesk getragen erklang nun das sehr schöne ‘The River’. ‘Follow The Stars’ hingegen führte uns ganz spezifisch zur Burg Rolandseck. Wo der Ritter Roland um seine Geliebte Hildegunde vom Drachenfels trauert, die sich – ihn tot wähnend und darob Enthaltsamkeit schwörend – ins Kloster Nonnenwerth verfügt hatte. Dem traurigen Anlass entsprechend ebenfalls langsam, aber groovy. Und mit fetzigen Orgelparts von Marcus.

Das wunderbar Smooth-Bar-Jazz-ige ‘Samuel Goldenberg & Schmuyle (From My Point Of View)‘ war Track 2 auf “Pictures at an Exhibition”. Fritz’ Bass-Sound (erzeugt mit einem fünfsaitigen Headless, der auch nach Fretless klingt – “durch die Spielweise und die Tonabnehmerwahl”, wie der Sympath freundlicherweise nach dem Konzert erläutert) war hier nicht zum letzten Mal das Tüpfelchen auf dem i.

Und wieder einmal löste es wohlige Schauer aus, wie sehr Johannes nach dem gereiften Peter Gabriel klingen kann… Wenn er das will.

Apropos Johannes: Keine Rhein-Mythologie ohne Drachen(fels). Der Texter und Co-Komponist von Voyager IV bekannte jedoch: “Eigentlich finde ich Drachen ja albern. Unser nächster Song ‘The Dragon’ handelt jedoch von einem Freund mit einer schweren Depression – es dreht sich also um unsere “inneren Drachen”.
Im Verlauf des spannenden Stücks spielte Wim so etwas wie ein extrem virtuoses Schlagzeugsolo – nur dass alle anderen ebenfalls weitergespielt haben.

Randszenen: Erinnert sich noch jemand an Frank Zappas “Roxy & Elsewhere”? “Don’t dance to the music of the song, dance to what he plays!” (i.e. George Dukes E-Piano-Solo). Eine der Ladies im Publikum war ganz ohne Aufforderung just auf diesem Trip. Die Schöne tanzte nonstop jede, aber auch noch so schnelle Note, die Marcus an diesem Abend gespielt hat. Respekt! Eine weitere Dame nicht weit von ihr hat jedes einzelne Wort der Texte mitgesungen – verblüffend bei einer solchen Premiere. Aber auch dafür wird es Erklärungen geben…
Die nächste Ansage würdigte einen – im Auditorium anwesenden – wichtigen Kooperationspartner des Projekts: der Kölner Mike Herting ist Jazz-Pianist, Bandleader, Komponist und Arrangeur. Er arbeitete mit Charlie Mariano, Senta Berger, Ulrich Tukur und vielen anderen und schrieb selbst bereits Hörspiel- und Filmmusik sowie Musicals. Das “Rheingold” hat er laut Marcus durch kritisches Gehör, Coaching und Arrangements zusätzlich aufpoliert.

‘Turn My Back On Love’ – wer kennt das nicht? Zwergenkönig Alberich jedenfalls (quasi ein Vorfahre von Thorin Eichenschild, nur halt im “Ring der Nibelungen” und nicht im “Herrn der Ringe”. Oder im Münster-Tatort) kannte dieses Gefühl, diesen Zustand. Denn er hatte sich heftig gleich in sämtliche Rheintöchter (Wellgunde, Woglinde und Floßhilde) verknallt. Und sich – als die schnippischen Nixen den nicht gerade als Adonis verschrienen Gnom lachend verschmähten – andere Ziele im Leben gesucht. Das Rheingold zum Beispiele. Das fand er auch, aber hat es ihn glücklich gemacht? Die einzigen „cheesy“ Synthesizer-Sounds des Abends sollten vermutlich seinen Schmerz und Enttäuschung symbolisieren. Wie auch immer, bei diesem „bad luck and troubles“-Song war bislang am meisten Bewegung in unserem gemütlichen Club.

‘Waters And Rocks’. Hier geht es natürlich endlich um das sich ständig ihre Haare ondulierende Luder auf dem Felsen. Verherrlicht wurde die Loreley u.a. durch Marcus an der trashigen “Suzuki-Harfe” und Johannes an einer gewaltigen Handtrommel. Einem seit Konzertbeginn am Bühnenaufgang liegenden Monstrum, bei dem wir uns die ganze Zeit gefragt hatten, was sich unter dieser gigantischen Kuchenabdeckhaube wohl verbergen mochte? Kein Kuchen. Erstaunlich, dass sich die holde, aber germanische Loreley zu so orientalischen Harmonien die Haare föhnte. Aber so wird es gewesen sein. Wenn es einer weiß, dann die Besatzung von Voyager IV.

Sagenhafte Marsch-Rhythmik seitens Wim. Das ekstatische Finale geriet – ergänzt durch Johannes‘ Mega-Handtrommel – zu einer rheinischen Mixtur aus – nein, nicht Himmel un Ääd, sondern STOMP meets Yamato.


‘Losing A Memory’ – brilliant vertonte und bedichtete Seelenpein, sehr stark.
Gleich gefolgt vom Favoriten des Abends für den Chronisten: Die sich mit jeder Woge nur immer noch mehr steigernden Return To Forever-Vibes von ‘Freyas Cat’s Car’ hatte wohl niemand erwartet. Marcus dazu:

»Ich habe einfach das Feeling von Chick Coreas ‘Spain’ verwendet, was wiederum auf dem klassischen Adagio von Joaquin Rodrigos “Concierto de Aranjuez” basiert. Darauf habe ich die Melodie von Wagners Leitmotiv 15 – Freia/Freyja gelegt – und siehe da, es passte.
Also ein mash-up, wie man heute sagt!«


Und hier gab es nun auch noch ein “echtes” furioses Drumsolo. Wim hat übrigens eine faszinierende Technik: Rechts packt er den Stick “normal” an, also wie wohlerzogene Menschen bei Tisch das Messer. Links aber hält er den Stock wie ein Ess-Stäbchen beim Asiaten, schlägt damit aber genau so hart und präzise zu wie rechts. Oder er drummt rechts mit normal gehaltenem “Klöppel” und bearbeitet sein Kit links mit der bloßen Hand.

Für ‘Ride Of The Valkyries’ (hier war sogar mal selbst mir klar, worauf das beruht) kommt jottlob Marcus‘ Keytar (behängt mit Troddeln!) an den Start. Kompensation des Traumas, das er dem Publikum anvertraut – denn eingangs seiner Musikerkarriere fand er sich immer im Halbschatten hinten auf der Bühne abgebildet. Während Gitarristen im Limelight das Interesse der Mädels abräumten…


(You’re) ‘Not Alone’ bildete schon den Abschluss des Hauptprogramms. Niemand zurück oder allein lassend folgte aber die berührenden Zugabe ‘Il Vecchio Castello (Photophobia)’ auf dem Fuß. Nirgendwo sonst klingt Johannes so sehr nach dem späten Peter Gabriel. Insofern ein besonders gelungener Abschluss eines herzerhebend schönen Konzerts. Dem man nur 300 Besucher mehr gewünscht hätte. Umso kostbarer, dabei gewesen sein zu dürfen…

Live-Fotos: Harald Oppitz

PS: Aufgrund der oben dargestellten Qual der Label-Wahl konnten die begeisterten Konzertbesucher die “Rheingold”-CD leider noch nicht erwerben und sich signieren lassen. Sie kann allerdings ab sofort bei der Band vorbestellt werden.


Setlist:
1 Overture
based on Genesis-leitmotif 1/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
2 The River
based on The Rhine-leitmotif 2/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
3 Follow The Stars
based on Fräulein Loreley (Paul Linke)
4 Samuel Goldenberg (From My Point Of View)
altes Programm: Pictures At An Exhibition – Modest Mussorgsky
5 The Dragon
based on The Dragon- leitmotif 27/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
6 Turn my back on love
based on Renunciation of Love- leitmotif 10/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
7 Waters And Rocks
based on Loreley-Song (Friedrich Silcher)
8 Losing a memory
based on Renunciation of Love- leitmotif 10/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
9 Freyas Cat’s Car
based on Freya(Love Pursued & Flight)- leitmotif 15/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
10 Ride Of The Valkyries
based on Valkyries- leitmotif 48/Ring der Nibelungen (Richard Wagner)
11 The Great Gates Of Kiev (Daedalus Calling)
altes Programm Pictures At An Exhibition – Modest Mussorgsky
12 Not Alone
based on Sunday on the Rhine (Robert Schumann)
13 Il Vecchio Castello(Photophobia)
altes Programm Pictures At An Exhibition – Modest Mussorgsky
All songs composed/arranged by Johannes Kuchta & Marcus Schinkel

Surftipps zu Voyager IV:
Homepage
Homepage Marcus
Homepage Johannes
Homepage Wim</a>
Homepage Emocao (Fritz Roppel)
Facebook-Profil von Voyager IV
YouTube
Bandcamp
Spotify
Wikipedia

Rezension:
Pictures At An Exhibition (2019)

Konzertbericht:
Voyager IV, 31.01.19, Bonn, Harmonie