(54:11; Vinyl (2LP), CD, Digital; Constellation Records, 04.10.2024)
Godspeed You! Black Emperors neuestes, achtes Studio-Album hat mich gleich zweimal, auf ganz unterschiedliche Weise umgehauen. Das eine Mal, als ich mir die Platte erstmals am Stück anhörte und mich die melodramatische Schönheit und die intensive Emotionalität derart überwältigt haben, wie letztmals “Yanqui U.X.O.”. Dass hier nicht einfach verschiedene Stücke aneinandergereiht worden sind, sondern aufeinander aufbauen und beinahe suitenhaften Charakter besitzen, verstärkte diese Wirkung noch. Ein Album, das so durchdacht und durchkomponiert wirkte, wie man es bei den Kanadiern seit ihrem Meisterwerk “Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven” nicht mehr hören konnte, und das zugänglich zugleich ist.
Eine Platte, deren einzelne Teile nur als Ganzes Sinn ergeben, bedeutete allerdings auch, dass es sich hier um ein Konzeptalbum handeln musste. Dessen Thema erschloss sich dabei allerdings nicht gleich auf Anhieb. Was auch ungewöhnlich gewesen wäre, bei einem reinen Instrumentalalbum. Doch auch der Titel der Platte war so kryptisch, dass er lediglich Unverständnis hervorrief. Erst beim Lesen des die Platte begleitenden Statements der Band wurde klar, dass es sich hier um einen musikalischen Kommentar zum Gazakrieg handeln musst.
THE PLAIN TRUTH==
we drifted through it, arguing.
every day a new war crime, every day a flower bloom.
we sat down together and wrote it in one room,
and then sat down in a different room, recording.
NO TITLE= what gestures make sense while tiny bodies fall? what context? what broken melody?
and then a tally and a date to mark a point on the line, the negative process, the growing pile.
the sun setting above beds of ash
while we sat together, arguing.
the old world order barely pretended to care.
this new century will be crueler still.
war is coming.
don’t give up.
pick a side.
hang on.
love.
Der Titel der Platte hatte sich dabei aus einer einfachen Meldung über die Opferzahlen auf palästinensischer Seite ergeben: “No Title As Of 13 February 2024, 28.340 Dead”. Eine Bestandsaufnahme. Sachlich und trocken.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf und den Titeln der einzelnen Stücke zur Hand folgte sodann ein zweiter Hördurchgang, dessen Impact um Weiten stärker als beim ersten Durchlauf war. Die Wahrnehmung veränderte sich. Spannungsbögen und Geräusche ergaben plötzlich einen Sinn. Ein Crescendo in einem mit “Raindrops Cast In Lead” betitelten Stück war von jetzt auf gleich kein einfaches Stilmittel mehr. Das Album, das beim ersten Durchgang noch Begeisterungsstürme ausgelöst hatte, hinterließ auf einmal einen ganz fetten Kloß im Hals. Denn es war deutlich geworden, dass GY!BE mit diesem Album die bedrückende Atmosphäre im Gazastreifen musikalisch nachzeichneten. Die wertneutralen Titel dienten dabei als Überschriften, als Schlüssel dafür, die musikalischen Berichte zu verstehen. Angefangen bei der ersten Bedrohung bis hin zu dem Moment, wenn am Ende nichts anderes als grauer Schutt übrig ist.
Natürlich sind Godspeed für ihre politische Ausrichtung bekannt, sodass man dieses Album leicht als Aufruf verstehen könnte, sich einseitig mit der palästinensischen Seite zu solidarisieren.
So werden die Opfer, die Schicksale und die Ereignisse auf israelischer Seite mit keinem Wort erwähnt. Ein Umstand, der einen faden Beigeschmack hinterlässt. Allerdings sollte man auch wissen, dass Gründungsmitglied Efrim Menuck selbst kanadischer Jude ist.
Auch wenn die Montrealer mit diesem Album die Auswirkungen des Krieges einseitig beleuchten, so verlieren sie doch niemals ihr Leitmotiv aus den Augen. Denn am Ende der Platte sprießen inmitten all des grauen Schuttes auch wieder grüne Triebe der Hoffnung aus dem Boden: ‘Grey Rubble – Green Shoots’.
war is coming.
don’t give up.
pick a side.
Ja, Godspeed rufen mit diesen Worten zwar dazu auf, sich für eine Seite zu entscheiden. Doch geht es hier nicht um Israelis und Palästinenser, sondern um das Zusammenbrechen der alten Weltordnung und deren Auswirkungen.
the old world order barely pretended to care.
this new century will be crueler still.
war is coming.
Eigentlich ist es dabei gar nicht so schwierig, eine Seite zu wählen, so lange man nicht die Hoffnung verliert,egal welcher Partei man angehört.
don’t give up.
pick a side.
hang on.
love.
Diese Seite heißt Liebe!
Bewertung: 13/15 Punkten
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Thierry Amar – electric bass + contrebasse
David Bryant – electric guitar + tape loops
Aidan Girt – drums
Timothy Herzog – drums + glockenspiel
Efrim Manuel Menuck – electric guitar + tape loops
Michael Moya – electric guitar
Mauro Pezzente – electric bass
Sophie Trudeau – violin
Karl Lemieux + Philippe Léonard – 16mm film projections
Surftipps zu Godspeed You! Black Emperor:
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Rezensionen:
“G_d’s Pee AT STATE’S END!” (2021)
“Luciferian Towers” (2017)
Konzert- und Festivalberichte:
18.04.23, Köln, Die Kantine
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Rarely Unable zur Verfügung gestellt.