(43:50; CD, Digital; Eigenveröffentlichung, 31.05.2024)
Als die aus Russland stammenden und mittlerweile ins Vereinigte Königreich emigrierten Iamthemorning noch neu waren und ich sie im Vorprogramm von Gazpacho erstmals live erleben durfte, konnte mich das Duo mit seinem Chamber Prog verzücken. Über die Jahre hat diese Begeisterung immer mehr nachgelassen. Sowohl was die Studio-Alben als auch was die Live-Auftritte von Gleb Kolyadin und Marjana Semkina betrifft. Bei den Platten zu sehr im Mittelpunkt stehend, bei den Konzerten etwas zu sehr gekünstelt wirkend, war es die Frontfrau, die mich immer weiter weg von Iamthemorning trieb. Einzige Ausnahme: der Auftritt beim 2023er Prognosis Festival, bei dem das Duo von Gitarrist Liam McLaughlin und Schlagzeuger Evan Carson Verstärkung bekam und in Band-Stärke antrat.
Gleb Kolyadins instrumental gehaltene 2022er Platte “The Outland” hingegen holte mich wieder vollkommen ab. Überraschenderweise gilt dies auch für das hier vorliegende “Sirin”. Denn obwohl es sich hier, dem Namen nach, um ein Solo-Album Marjana Semkinas handelt, ist es dem Charakter nach doch viel mehr Band-Album als das letzte Album von Iamthemorning, “The Bell”. Denn der Fokus der Platte liegt nicht einfach nur auf Semkinas Gesang, bzw. wie bei Iamthemorning auf dem Kontrast zwischen Gesang und Piano, die vielen beteiligten Musiker, darunter Agent Frescos Keli Guðjónsson am Schlagzeug, Knifeworlds Charlie Cawood am Bass und Iamthemorning-Live-Musiker Liam McLaughlin an der Gitarre, sind hier als gleichberechtigte Partner mit eingebunden. Natürlich waren auch schon auf den drei Iamthemorning-Alben eine Vielzahl von Gastmusikern vertreten. Doch scheint der Fokus auf “Sirin” ein anderer zu sein, denn statt nur zu begleiten, wird auf diesem Album mitgestaltet. Und so mutet “Sirin” durch das erweiterte Instrumentarium ein ganzes Stück abwechslungsreicher an, seine Klangfarben viel bunter, die musikalischen Querverweise vielfältiger. Schon der an Blackmore’s Night erinnernde Opener ‘We Are The Ocean’, der eigentlich von Akustik-Gitarre und Streichern geprägt ist, überrascht in seinem Mittelteil mit einem überwältigenden Gitarren-Solo in typischer Prog-Manier.
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Orchestral und fast schon opulent hingegen kontrastiert im Anschluss ‘Lost But At Peace’, das einen Bogen zum ersten Iamthemorning-Album “Lighthouse” schlägt und von beklemmendem Tiefgang ist. Ganz großes Audio-Kino gibt es anschließend bei ‘Anything But Sleep’ zu hören, einem Duett mit Jim Grey von Caligula’s Horse. Denn, genau wie schon in der Vergangenheit bei Iamthemorning, entfaltet Semkinas Stimme immer genau dann eine ganz besondere Magie, wenn ihr eine männliche Stimme gegenüber gestellt wird. Es ist eines von zwei doch sehr gelungenen Stücken mit Gastsänger, denn auch bei ‘Death And The Maiden’ bekommt Marjana namhafte Unterstützung, nämlich in Persona von Mr. Antimatter Mick Moss. Doch auch alleine kann Semkina strahlen. Man höre sich nur das Bond-artige ‘Pygmalion’ an, bei dem die Russin so überzeugend intoniert, dass man an der Ernsthaftigkeit ihrer Texte keinerlei Zweifel hat.
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Wie abwechslungsreich “Sirin” tatsächlich ist, wird einem spätestens bei ‘Angel Street’ klar, das seiner Struktur nach klassischer Post Rock ist. ‘Gone’ hingegen ist wieder der folkloristische Chamber Prog, für den auch Semkinas Hauptband berühmt ist. Sehr schön gestaltet ist auch ‘The Storm’, das achte Stück der Platte, was ganz besonders an dessen wohligem Gitarrenspiel liegt, das stark an frühe Genesis erinnert. Ganz andere Gefühle kommen da schon beim anschließenden ‘Swan Song’ auf, denn obwohl erhaben und wunderschön ist dieses Stück von einer tiefen Traurigkeit durchdrungen:
Swans sing when they know they die…
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Melancholisch geht “Sirin” dann auch zu Ende, wobei die zauberhafte Hintergrundbegleitung der Wehmut einen Schimmer der Hoffnung verleiht.
Übrigens: Schon kurz vor der Veröffentlichung dieses Albums hatte ich meine Einstellung gegenüber der Künstlerin grundlegend überdenken müssen. So hatte ich in meinem letzten Konzertbericht über die Iamthemorning noch folgendes geschrieben:
Zu aufgesetzt wirkt das Auftreten von Sängerin Marjana Semkina. Denn hat man die Band schon ein paar Mal live erlebt, so wirken die Ansagen der Frontfrau fast wie einstudiert. Was eine seltsame Wirkung entfaltet, insbesondere, wenn Semkina über ihr Heimatland, dessen Präsidenten und ihr Exil im Vereinigten Königreich spricht. Doch wahrscheinlich tut man der Dame mit dieser Annahme Unrecht. Vielleicht ist es doch eine kleiner Rest Unsicherheit oder Lampenfieber, der nach all den Jahren nicht verschwunden ist und gerade vor einem so großen Publikum leicht wieder aufflammen kann.
Mittlerweile bin ich mir aber sicher, dass ich der Dame tatsächlich Unrecht getan habe. Denn als Gleb Kolyadin vor wenigen Monaten in Thailand in Haft geraten war und ihm, dem regierungskritischen Künstler, drohte, nach Russland ausgeliefert zu werden, da setzte sich Marjana nach Leibeskräften für ihren Band-Kollegen ein, um über ihre Fanbase Druck auf die britische Regierung auszuüben. Zwar wirkte Marjana bei ihrem Aufruf weiterhin so aufgesetzt wie eh und je, ließ aber trotzdem zu keinem Moment den leisesten Zweifel daran aufkommen, wie ernst die Sache war und dass sie aus tiefstem Herzen handelte.
I was never very political and I always tried to keep my art within the realms of lore, literature and imagination. But when events like the ongoing Russian invasion of Ukraine happen, it is impossible – and I’d even say, unforgivable – to stay silent and do nothing. Thankfully being based in the UK, I feel rather safe speaking out against the current regime and I do have a platform that I can use to try and show the world that Russians disagree with the actions of the Russian government and there are so many of us that only wish for this to be over. I’m just trying to show it in the most artistic way I can muster.
So entfalten Semkinas dunkle Märchengeschichten, die auf “Sirin” zu hören sind, vor diesem Hintergrund plötzlich eine bedrohliche Wahrhaftigkeit, denn ihre Texte sind hörbar von den aktuellen Geschehnissen in der Ukraine beeinflusst worden. Ein überraschend überzeugendes Werk, nicht nur musikalisch, das ich in dieser Form von Marjana Semkina nicht erwartet hätte.
Bewertung: 12/15 Punkten
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Besetzung:
Marjana Semkina – vocals, guitar
Mitwirkende:
Grigoriy Losenkov – piano, bass guitar, synths, drum programming
Vlad Avy – electric guitar, synths, drum programming
Keli Guðjónsson – drums
Charlie Cawood – acoustic guitar, bouzouki, glockenspiel, hammered dulcimer, luiqin, guzheng
Liam McLaughlin – electric guitar
Margarita Chernyshevskaya – 1st Violin
Petr Chepelev – 2nd Violin
Julia Uliashcenkova – Viola
Julia Romashko – Cello
Gastmusiker:
Jim Grey – vocals on ‘Anything But Sleep’
Mick Moss – vocals on ‘Death And The Maiden’
Diskografie (Studioalben):
“Sleepwalking” (2020)
“Sirin” (2024)
Surftipps zu Marjana Semkina:
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Rezensionen:
“Sleepwalking” (2020)
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Holdtight zur Verfügung gestellt.