(1:04:17, Vinyl (2LP), CD, Mediabook (CD + Blu-ray), Digital; InsideOut Music/Sony Music, 01.03.2024)
Man könnte an dieser Stelle viel über den viel zu früh und plötzlich verstorbenen Big Big Train-Sänger David Longdon schreiben, machen wir an dieser Stelle aber nicht, da diese Tragödie, dieser Verlust nicht wirklich in Worte zu fassen ist. Rückblicke und Vergleiche mit Nachfolger Alberto Bravin sollen an dieser Stelle vermieden werden und ‘The Likes Of Us’ möglichst als selbständiges Werk, unabhängig von der Vergangenheit der Band betrachtet werden. Soweit dies überhaupt möglich ist.
Hört man “The Likes Of Us” zum ersten Mal, so werden immer wieder Parallelen deutlich, Parallelen zu einer der größten Legenden des Progressive Rocks; was die Instrumentierung angeht, die Melodien, das Klangbild, den typisch englischen Spirit dieser Platte: Genesis.
Steve Hackett wird zwar immer als der Musiker bezeichnet, der den Geist der alten Genesis weiterträgt. Und ja, verglichen mit der Musik seiner ehemaligen Band-Kollegen und natürlich erst recht, was die Set-Lists seiner Konzerte angeht, stimmt das natürlich. Vergleicht man allerdings das letzte Output Hacketts, das Konzeptalbum “The Circus And The Nightwhale”, mit der neuen Scheibe von Big Big Train, so muss man ganz klar attestieren, dass die Genesis-Fackel sich nicht mehr in den Händen Hacketts befindet. Zumindest was die neu komponierten Stücke angeht.
Zwar ist man meilenweit davon entfernt, Genesis zu kopieren oder gar deren Klon zu sein. Und doch gibt es so viele kleine Momente, dezente Verweise: im Opener ‘Light Left In The Day’ an ‘Supper’s Ready’, in ‘Bookmarks’ an ‘Dusk’ in ‘Last Eleven’ an ‘Dance On A Volcano’.
Zum Schaden der Platte ist dies nicht, ganz im Gegenteil. Denn trotz aller Querverweise klingen Big Big Train v.a. nach sich selbst, aber auch nach den diversen anderen aktuellen und ehemaligen Bands und Projekten der beteiligten Musiker, wie etwas Spock’s Beardfish.
Allerdings haben sich Big Big Train gegenüber ihrer letzten Alben etwas verändert, und damit ist nicht der Wechsel hinterm Mikrofon gemeint. Trotzdem betrifft eine dieser Entwicklungen den Gesang, denn Big Big Train treten auf “The Likes Of Us” verstärkt als Kollektiv auf, bei dem jeder mal darf. So sind neben Bravin nicht nur vier weitere Stimmen zu hören, endlich wird Nick D’Virgilio und Rikard Sjöblom auch gebührend Platz eingeräumt. Gut so! Denn bei diesen beiden etablierten wie begnadeten Prog-Sängern hat man sich schon lange gewundert, warum das bei Big Big Train nicht schon lange so gewesen ist. Und das Zusammenspiel mit Alberto Bravin funktioniert wunderbar, wodurch die Band einen ganz neuen Charme entwickelt.
Generell möchte man meinen, dass sich Big Big Train ein wenig von sich selbst emanzipiert haben. Ja, man klingt nach den eigenen Stamm-Bands, Genesis, nach Yes, nach Tull, aber das ist egal. Denn was hier zu hören ist, wirkt nicht gekünstelt, sondern ungezwungen. Man lässt den Melodien freien Lauf, man glänzt instrumental, ohne sich zu verfranzen. Trotz großer Länge weisen die einzelnen Songs kaum Längen auf. Alles bleibt stets griffig und packend. Und vor allem bleibt viel Platz zum Träumen und zum Schwelgen, ohne dass man in Kitsch verfällt.
Schon das quasi rein instrumental gehaltene ‘Light Left In The Day’ ist abwechslungsreich, mitreißend und einfach nur wunderschön.
‘Oblivion’ hat ordentlich Drive, rockt gewaltig und lebt von seinen meisterhaften Melodien.
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‘Beneath The Mast’ weist eine Spielzeit von über 17 Minten und wird zu keinem Moment langweilig, da sich das Stück, wie es sich für ein echtes Prog-Epos gehört, ständig weiterentwickelt und die Musiker dabei niemals den Faden verlieren. Gespickt mit vielen kleinen Details und Ideen hat man sich an diesem Stück auch nach dem 100. Durchgang noch nicht sattgehört. Für den Rezensenten spannender als alles andere, was er von Big Big Train kennt.
Das bedächtige ‘Skate On’ lebt vor allem von seinem vielschichtigen Gesang, ‘Love Is The Light’ ist eine Ballade mit mächtig Pathos aber ohne Schmalz.
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‘Miramare’ wirkt gleichzeitig verträumt und traumhaft schön, und das melancholische ‘Bookmarks’ atmet den gleichen Spirit, wie man ihn auch von Genesis’ “Trespass” kennt.
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Und dann ist da zuletzt noch ein letztes fettes Ausrufezeichen ! in Form von ‘Last Eleven’. Der ultimative Beweis dafür, dass sich all jene geirrt haben, die gedacht hatten, mit Big Big Train würde es nach David Longdons Tod zu Ende gehen.
Bewertung: 13/15 Punkten (FF 13, JM 13, FS 10)
Und hier noch die Gedanken von Fix Sadler zu diesem Album:
Big Big Train machen “klassischen” Retro Prog. Wenn Du den “Fehler” findest, kriegst Du ein Eis… Da ist eine Menge Genesis, ein Hauch Camel, ein bisschen Folklore. Das ist das, was man “Eaton Place-Prog” nennen möchte. Seit Jahren. Top Niveau, unüberraschend, schön, öde.
Verweisen muss man an dieser Stelle auf das unerwartete Ableben von David Longdon, dem langjährigen Sänger der Band, der auch mehr und mehr kreativen Input in die Combo gebracht hatte. Eine Zäsur, ein Grund das Projekt zu beenden. Mit Recht. Inzwischen aber ist das Konstrukt so gewachsen, dass es offensichtlich auch so einen tragischen Verlust ertragen kann. Das internationale Line-up (UK, US, Schweden) wurde unter anderem durch Alberto Bravin (PFM, Italien) ergänzt und Letztgenannter gibt sich auch als Co-Songwriter keine Blöße.
Worauf will ich hinaus? Nick D‘Virgilio (Spock’s Beard – muss ich das erwähnen?), Alberto Bravin, Rjkard Sjödblom (Beardfish) und Bandleader Greg Spawton sind absolute Profis, die sich mit weiteren Profis umgeben. Da kann einfach nichts schief gehen, wenn man weiß, wohin der Zug fährt. End of Story? Nicht ganz.
“The Likes Of Us” bietet super routinierten Retro-Kram, dem keiner böse sein kann. Mag es oder lass es bleiben. Ich würde behaupten, dass diese Platte etwas mehr Uptempo, hier und da nahezu „hardrockige” Akzente bietet. Ich persönlich mag auch die Stimme von Bravin etwas mehr als die von Longdon. Vernachlässigenswert.
Ich glaube, wer die Band bisher mochte, wird dieses Album richtig cool finden. Wer sie noch nie mochte, wird kaum Gründe finden, sie jetzt zu mögen. Obwohl ich gerne noch mal auf den erhöhten Drive (im Verhältnis zu den letzten 3 bis 4 Platten) hinweisen mag.
Und nun kommen wir zu dem Thema, was mich besonders interessiert.
Die Platte bietet einen Surround-Mix in Atmos und 5.1 an. Zu Atmos sag ich nix, weil ich das nicht abrufen kann. Aber der 5.1-Remix macht Spaß. Ich habe eine JBL-Soundbar mit abnehmbaren Satelliten und in diesem System entfaltet sich der BBT-Sound überragend. Man kann nicht mal sagen, dass er besondere Akzente hat, dafür ist die Musik zu konservativ. Aber es ist vereinnahmend, super produziert und hat ein paar Gimmicks, die das Ganze besonders machen, auch abseits der Tatsache, dass es BBT‘s erster Surround-Remix ist.
Die mannigfaltigen akustischen Instrumente fliegen im Raum rum, Chöre setzen in den Satelliten Akzente. Die Produktion ist einfach komplett großartig. Sagte ich schon, dass die ziemlich genau wissen, was sie tun? Zum Beispiel Rob Aubrey um Hilfe bitten, der scheiße klingende Alben wie “The Wake” und “Tales From The Lush Attic” auf Vordermann gebracht hat. Aubrey ist – was 5.1 angeht – kein Steven Wilson. Aber er ist gut. Und das macht das neue Album besser als 5 bis 6 gleichklingende BBT-Alben. Oder: ein bisschen anders.
Und mit dem neuen Sänger, dem Hauch mehr Rock und insbesondere dem offensichtlichen Jux, mehr in den Sound zu investieren, ist “The Likes Of Us” auf gar keinen Fall schlechter als die letzten Steve Hackett-Alben.
Was ich übrigens mit der “Technik-Bewertung” meine, ist der “Ladevorgang” der DVD. Einlegen, Sound im Sound-Menü auswählen. Album abspielen. Was wie selbstverständlich klingt, findet man nicht selten wesentlich komplizierter auf Surround-DVDs/Blu-rays.
Bewertung (Surround): 12/15 Punkten
Bewertung (Technik): 15/15 Punkten
Bewertung (Album): 10/15 Punkten (FS 10, FF 13)
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Besetzung:
Alberto Bravin – Lead vocals, guitar, keyboards
Nick D’Virgilio – Drums, percussion, vocals, 12-string acoustic guitar, vocals
Dave Foster – Guitars
Oskar Holldorff – Keyboards, vocals
Clare Lindley – Violin, vocals
Rikard Sjöblom – Guitars, keyboards, vocals
Gregory Spawton – Bass guitar, bass pedals, 12-string acoustic guitar, Mellotron
Diskografie (Studioalben):
“Goodbye To The Age Of Steam” (1994)
“English Boy Wonders” (1997)
“Bard” (2002)
“Gathering Speed” (2004)
“The Difference Machine” (2007)
“The Underfall Yard” (2009)
“English Electric, Part One” (2012)
“English Electric, Part Two” (2013)
“Folklore” (2016)
“Grimspound” (2017)
“The Second Brightest Star” (2017)
“Grand Tour” (2019)
“Common Ground” (2021)
“Welcome To The Planet” (2022)
“The Likes Of Us” (2024)
Surftipps zu Big Big Train:
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Rezensionen:
“Welcome To The Planet” (2022)
“Common Ground” (2021)
“Empire” (2020)
“Grand Tour” (2019)
“Merchants Of Light” (2018)
“The Second Brightes Star” (2017)
“Grimspound” (2017)
“A Stone’s Throw From The Line” (2016)
“Folklore” (2016)
“Stone & Steel” (2016)
“Wassail” (2015)
Festival- & Konzertberichte:
05.09.2022, Zoetermeer (NL), De Boerderij
Interviews:
Big Big Train – Past, Present & Future: Im Gespräch mit Gregory Spawton (2020)
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Oktober Promotion zur Verfügung gestellt.