(1:15:00; Vinyl (2 LP), CD, Digital; Frontiers Music/Soulfood, 12.01.2024)
Spock’s Beard, Transatlantic, Flying Colours, The Neal Morse Band und nicht zuletzt D’Virgilio, Morse & Jennings: Die Anzahl der Bands und Projekte, in denen Neal Morse in den letzten 30 Jahren mitgewirkt hat, ist lang wie ein Rattenschwanz. Von den zahlreichen Gastauftritten mal ganz abgesehen. Spock’s Beards’ “The Light” oder Transatlantics “Bridge Across Forever” zählten zu den ganz großen Alben des Retro Progs der 90er und 00er Jahre, doch spätestens mit seinem Ausstieg bei Spock’s Beard wurden die Klagen der Szene über Morse Veröffentlichungen immer lauter: Der Vorwurf, der immer öfter zu hören war, lautete stets: “Mor(s)e Of The Same” (Den Schmähruf greift der Prediger eingangs von ‘The Brothers Repent…’ sogar selbst auf, d. Schlussred.). Zudem konnten viele Prog-Hörer auch den Weg nicht mitgehen, den Morse mit den unter seinem eigenen Namen veröffentlichten Alben beschritt, nämlich den von Konzeptwerken zu Themen aus der Bibel.
Dass es nun ausgerechnet eine Geschichte aus dem Alten Testament ist, deren Vertonung den Autoren dieser Zeilen wieder fesseln kann, das ist bemerkenswert und war so nicht zu erwarten gewesen. Insbesondere, da ihn das letzte Morse-Album “Sophomore”, das zweite Album aus dessen Kooperation mit Ross Jennings und Nick D’Virgilio, zuletzt recht kaltgelassen hatte. Warum den Autoren ausgerechnet dieser zweite Teil der Vertonung der Joseph-Geschichte aus der Genesis wieder begeistert, darüber rätselt der Betreuers noch immer selbst. Vielleicht liegt es einfach daran, dass der selbstverordnete Morse-Entzug lange genug gewesen ist, sodass die Folgen der zurückliegenden Überdosis endlich auskuriert sind. Fakt jedenfalls ist, dass die Platte auf den Autoren eine ähnliche Wirkung entfaltet, wie zuletzt Arenas 2022er “The Theory of Molecular Inheritance”. Es hat eine Leidenschaft neu entflammt, die lange der Vergangenheit angehört hatte.
“The Restoration • Joseph: Part Two” ist jedenfalls alles andere als langweilig. Zwar klingt auch hier alles nach Morse, doch werden dabei all seine Schaffensphasen abgedeckt. Kein Wunder, so sind an diesem Album doch viele Weggefährten von Neal Morse beteiligt, darunter aktuelle und ehemalige Mitglieder von Spock’s Beard, der Neal Morse Band und nicht zuletzt Nick und Ross von D’Virgilio, Morse & Jennings. So lässt der Opener ‘Cosmic Mess’ einen nicht gähnen, obwohl dieses Stück sehr stark nach Spock’s Beard klingt. Ganz im Gegenteil, es lässt aufhorchen, denn so dicht am Sound der ganz alten Bärte war der Musiker aus Nashville schon lange nicht mehr gewesen. Das Piano, die Gitarre, der knarzende Bass – ‘The Light’ lässt grüßen!
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Das zweite Stück wartet mit Satzgesang auf, wie er so typisch für Morse-Kompositionen ist, doch gibt es hier keinen Prog zu hören. ‘My Dream’ hat schwere Classic-Rock-Schlagseite und der Chorus erinnert stark an Gruppen wie die Little River Band. Wie angenehm die Produktion dieser Platte ist, das verdeutlicht das anschließende ‘Dreamer In The Jailhouse’, bei dem flächige Synthies auf einen fetten Drum-Sound und galoppierende Gitarren treffen. Dazu die Stimme von Ross Jennings und eine Akustikgitarre mit BJH-Vibes. Ein tolles Stück Musik, dass nahtlos in das Keyboard-lastige ‘All Hail übergeht, das nicht mit Tastenzauber geizt und mit seiner sanft instrumentierten Traum-Passage begeistert. ‘The Argument’ bietet Satzgesang, der hier viel, viel besser funktioniert als der auf “Sophomore”, obwohl hier die gleichen Protagonisten am Werk sind. Zusammen mit der verrückten musikalischen Begleitung eine ganz große Verbeugung vor Gentle Giant. ‘Make Like A Breeze’ bietet High-Speed-Keyboard-Wizzardry, die einen für einen Moment im Glauben lässt, Keith Emerson sei von den Toten wiederauferstanden. Dazu der Gesang von Ted Leonhard, der auch gut zu einem Musical passen würde. Es folgt ein Rückgriff aud “Jospeh: Part 1”, denn der siebente Track ist eine Reprise der Ouvertüre dieser Platte.
‘I Hate My Brothers’ ist dann wohl das Love-or-hate-Stück der Platte. Denn die Single des Albums verneigt sich vor dem Hard Rock der 80er, mit dem eine Band wie Def Leppard seinerzeit die Stadien füllten. Ich sehe schon Chef-Betreuer Klaus Reckert im Müngersdorfer Stadion stehen, wie er zusammen mit zehntausenden anderen Fans die Zeilen “I Hate My Brothers But I Love My God” mitgröhlt (Wie gut Du mich kennst. Genau so wird es kommen. Nicht. Die Schlussred.).
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Dass Neal Morse mit seinen Solo-Platten eventuell auch auf den Musical-Markt schielt, dass kann man bei einem Stück wie ‘Guilty As Charged’ erahnen. Denn die schönen Vokal-Arrangements, die sanften Piano-Passagen die orchestralen Passagen und die großen Dramatik des Stückes schreit förmlich nach den Theatern des Braodway und nach einem Publikum, das es nach den großen Geschichten der Bibel verlangt.
Auch hiernach bleibt es abwechslungsreich. Die verschiedenen Sänger geben sich die Klinke in die Hand und die Stücke fischen in den unterschiedlichsten Gewässern. Funky und Bläser-lastig geht es in ‘Reckoning’ zu. ‘Bring Ben’ bringt anfangs den Satzgesang zurück und macht im weiteren Verlauf sehr beschwingt weiter. ‘Freedom Road’ dagegen baut auf die ganz großen Gefühle und schlittert mit Drama und Schmacht immer wieder ganz tief in den Kitsch hinein. Da gefällt ‘The Brothers Repent/Joseph Revealed’ schon deutlich besser, denn obwohl ähnlich aufgeblasen, versprüht es spätestens mit seiner Flamenco-Passage einen ganz wundervollen Charme.
Weiter im biblischen Text geht es mit ‘Restoration’, seinen ansprechenden Percussions, tollen Keyboards und ganz viel Jazz. Bevor der dramaturgische Höhepunkt des Albums einsetzt: ‘Everlasting’. Fast wie bei der allerletzten Zugabe eines Konzertes wird hier noch einmal alles in die Waagschale geworfen. Die verschiedenen Sängerinnen und Sänger kommen noch einmal zum großen Finale auf die Bühne, Bläser und analoge Synthies werden auspackt, und alle Musiker dürfen noch einmal auf ihren Instrumenten solieren. Und oh Wunder, oh Wunder, das Ganze funktioniert wunderbar! Bleibt als Ausklang nur noch das über siebenminütige ‘Dawning Of A New Day (God Uses Everything For Good)’, das für den Abschluss der Geschichte wohl wichtig ist, an dieser Stelle allerdings wie ein zu langes Anhängsel wirkt.
Trotz alledem, ein klasse Album.
Bewertung: 11/15 Punkten (FF 11, KR 10 – für ‘Make A Breeze’)
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Besetzung:
Nick D:Virgilio
Eric Gillette
Gabe Klein
Neal Morse
Sam Hunter
Gideon Klein
Alan Morse
Mark Leniger
Bill Hubauer
Cast:
Neal Morse
Ted Leonard
Matt Smith
Nick D’Virgilio
Ross Jennings
Alan Morse
Jake Livgren
Mark Pogue
Talon David
Wil Morse
Diskografie (Studioalben):
“Testimony” (2003)
“One’ (2004)
“?” (2005)
“Sola Scriptur”a (2007)
“Lifeline” (2008)
“Testimony 2” (2011)
“Momentum” (2012)
“Jesus Christ the Exorcist” (2019)
“Sola Gratia” (2020)
“The Dreamer • Joseph: Part One” (2023)
“The Restoration • Joseph: Part Two” (2024)
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