So ganz ließ sich der Eindruck nicht vermeiden, dass Mastermind Steven Wilson mit dem letzten Rückkehrer-Studio-Album von Porcupine Tree, der “Closure/Continuation”, nach 13 Jahren und vielen sehr herausfordernden Solo-Alben die Fan-Scharen ein wenig friedvoll stimmen wollte. Diese Platte war nach 13 Jahren Abstinenz schon ein auf “Nummer Sicher” getrimmtes Produkt mit anschließend superben Tour-Setting, was die Song-Auswahl und Laufzeit der Konzerte betraf. Mit “The Harmony Codex” schließt Wilson nach dem eher experimentell, sehr elektronisch poppig angehauchten “The Future Bites” wieder ein wenig mehr an die opulenten, progressiv angelegten Art-Pop-Veröffentlichungen davor an. Soll heißen, all seine Vorlieben für große Pop Acts wie Tears for Fears, David Bowie und natürlich Pink Floyd finden sich in den neuen zehn Tracks in seiner natürlich ganz Wilson-typischen individuellen Ausdrucksform wieder. Im Norden von London zusammengebastelt, erdacht und kreativ in Szene gesetzt, dabei profitiert von der Unterstützung von Musikern wie z.B. Sam Fogarino von Interpol oder Jack Dangers von Meat Beat Manifesto, lebt das neue Output von einem hohen Maß an Experimentierfreude, das Spiel mit vielerlei elektronischen Elementen findet sich hier ebenfalls in vielfältiger Weise auch auf dem neuen Output wieder. Zu den einzelnen Songs:
- ‘Inclination’ – ein fast ausschließlich elektronisch, gelegentlich flirrend, jazzig, trippig, angeloopter Opener mit Steigerung gen Ende, Drum Patterns, David-Sylvian-angehauchte ambiente Saxophon-Elemente, Wilson phrasiert in seiner typisch melancholischen Weise darüber.
- ‘What Life Brings’ – für jeden Wilson-Fan ein Leckerli, wunderschöne Ballade mit Gilmour-Gitarren-Moment, tröpfelndem Piano und mehrstimmig-typischem Sehnsuchts-Gesang, leider nicht mal fünf Minuten lang.
- ‘Economies of Scale’ – unruhiger, minimal trippiger Sound-Teppich mit dafür wunderschönen, traurigen Vocals, die mal wieder an die tiefen, nächtlichen Thom -Yorke-/Radiohead-Momente gemahnt. Partiell phrasierende vollmundige Akustik-Gitarren-Anschläge als Akzent zum sehr elektronischen Fundament mit Wall of Sound. Ein Song, welcher von seiner einerseits minimalen, dafür aber hypnotisch driftenden Stimmung lebt, wächst und wächst, von Mal zu Mal.
- ‘Impossible Tightrope’ – wunderschöner orchestral, fast klassisch angehauchter Sound, unruhiges trippiges Drumming, erneut leicht metallische Riffs, schaffen ein modernes Prog-Monster mit allerlei elektronischen Gimmicks und im weiteren Verlauf akustische Intermezzi, fordernde Saxophon-Soli und mittendrin ein zur Ruhe kommender schwebender Mittelteil mit Möwen-Samples. Steven spielt mit Stimme in hoher Phrasierung, ätherische Female-Vocal-Chöre hieven den Track in fast surreale Queen-like operettenhafte Opulenz. Verspielte jazzige Partituren lassen den Zehnminüter mittendrin herausfordernd ins Schräge kippen, werden dann ‘gen Ende wieder mit sehr melodisch-atmosphärischem Ausklang aufgefangen. Ein groovig-unruhiges, mit vielen Sound-Spielereien verspieltes Epik-Monster.
- ‘Rock Bottom’ – Ninet Tayeb veredelt mal wieder eine diese sehr emotionalen Balladen. Schwere, orchestrale, sehr intensive Streicher und Duett-Gesang zum melancholischen Text sind melodisch auf den Punkt, es bleibt ein wunderschöner Track mit schmerzhaften Gitarren am Ende, der leider viel zu früh, nach erneut nicht mal fünf Minuten, endet.
- ‘Beautiful Scarecrow’ – schwebender, mit dicken Electronica-Schichten behafteter Melancholie-Pop, Wilson leidet sinnierend mit schönen Vokal-Harmonien. Opulente Drums, in Hall getränkt, ein schleppender nächtlicher Trip-Rock-/Pop-Sound, der den Song sich steigern lässt in Sachen Dynamik und Power – auch hier von Mal zu Mal stärker im Ohr.
- ‘The Harmony Codex’ – der epische instrumentale Titelsong ist ein opulentes Soundtrack-artiges Gemälde, zieht fast zehn Minuten seine nächtlichen, urbanen Kreise. Wilson erschafft mit wunderschönen kristallinen Ambient-Sounds ein intimes, schmerzhaftes, urbanes, nächtliches Einsamkeits-Szenario, welches an die letzten introvertierten, kosmischen Thom-Yorke-Alben gemahnt. Transzendente Stimmungen befeuern das eigene Kopfkino, gerade für den Kopfhörer-Moment ein perfektes Chillout-Moment. Wächst ebenfalls mit jedem weiteren Hördurchgang.
- ‘Time Is Running Out’ – viel zu kurzes, mit schwebenden Electronica-Loops getragenes und grandiosen Gitarren am Song-Ende schwebendes, wehmütiges, sehr typisches mehrstimmiges Wilson-Moment. Ein Melancholie-Bad, welches ebenfalls mit jedem weiteren Durchgang gewinnt.
- ‘Actual Brutal Facts’ – erinnert mich an aktuellere Archive-, Massive-Attack-, Tricky-Momente mit typischen, zum Ende hin sehr ausufernden Wilson-Gitarren. Moderner Trip Rock vom Feinsten.
- ‘Staircase´- kosmischer Beginn, flirrend-deepe Sequenzen, sanfte trippige Beats, fantastische Vocals. Erinnert erneut an aktuelle Archive oder auch die experimentell-poppige Seite der Norweger Ulver. Der Song driftet mit Gilmour-Gitarren, vollmundiger Elektronik und dieser urbanen, nächtlichen Melodik über knapp neun Minuten durch Zeit und Raum, orchestral und groovy mit drängendem Bass-Spiel, ein gelungener Album-Abschluss.
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Fazit: Dieses wie immer superb produzierte Album braucht definitiv so einige Anläufe, Durchgänge, es wächst stetig und dann findet es mit vielerlei Stimmungsbildern/Puzzleteilen, elektronischen Abfahrten und immer wieder dieser ganz typischen Wilson-Melodik zu einem in sich kohärenten Bild. Ein moderner, zum Teil unberechenbarer, urbaner Trip, der Steven Wilson zwischen viel Elektronik, pompösem Prog Rock und Pop-Momenten wiederfindet und oftmals positiv an die letzten Solo-Momente des Radiohead-Sängers erinnert. Die Melancholie ist omnipräsent, will aber in all den verschiedenen, sehr experimentell angehauchten Loops, Melodien und atmosphärischen Ecken und Kanten entdeckt werden. Das letzte Porcupine-Tree-Album war definitiv ein Fan-befriedigender Kompromiss, ein Auf-Nummer-Sicher-Album, die hier auf diesem neuen Solo-Album offenkundig suchende Attitüde, mit allerlei modernen Sounds spielenden Facetten, zeigen hingegen einen Musiker, der den Zeitgeist integriert, mutig bleibt, ein klein wenig sein neues Gefühl vom kleinen Pop Star mit viel Experimentierfreude in Sachen Sound präsentiert. Nach intensivem mehrmaligem Hören erschließt sich das Puzzle-artige Sound-Gefühl und wächst heran zu einer dichten, modernen Klangkathedrale.
Bewertung:13/15 Punkten
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Besetzung:
Steven Wilson
Theo Travis (tracks 1, 4, 6)
Nils Petter Molvær (track 1)
David Kosten (tracks 1, 5, 6, 8, 9, 10)
Adam Holzman (tracks 1, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 10)
David Kollar (tracks 1, 4, 9)
Niko Tsonev (tracks 1, 4, 5, 8, 10)
Pat Mastelotto (track 1)
Nate Navarro (tracks 1, 9)
Jack Dangers (tracks 1, 6, 9)
Ninet Tayeb (tracks 1, 2, 5)
Craig Blundell (tracks 2, 5, 6, 9, 10)
Guy Pratt (tracks 2)
Nate Wood (tracks 4)
Ben Coleman (tracks 4)
Lee Harris (tracks 4)
Josef E-Shine (tracks 5)
Jason Cooper (tracks 6)
Rotem Wilson (tracks 7, 10)
Nick Beggs (tracks 6, 10)
Sam Fogarino (tracks 10)
Diskografie (Studio-Alben):
“Insurgentes” (2009)
“Grace For Drowning” (2011)
“The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)” (2013)
“Hand. Cannot. Erase.” (2015)
“To The Bone” (2017)
“The Future Bites” (2021)
“The Harmony Codex” (2023)
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Rezensionen:
“The Future Bites” (2021)
“Eminent Sleaze” (2020)
“To The Bone” (2017)
“Transience” (2016)
“4 ½” (2016)
“Hand. Cannot. Erase.” (2015)
“Drive Home” (2013)
“The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)” (2013)
“Grace For Drowning” (2011)
“Insurgentes” (2009)
Konzert- & Festivalberichte:
17.07.18, Bonn, Kunst!Rasen
05./06.03.18, Essen, Colosseum Theater
15.01.16, Bochum, Jahrhunderthalle
20.03.15, Köln, E-Werk
Interviews:
Steven Wilson zu “To The Bone” (2017)
Steven Wilson zu “Hand. Cannot. Erase.”: “Living In The City In The 21st Century” (2015)
Abbildungen: Steven Wilson / Virgin