Igorrr, Amenra, Der Weg Einer Freiheit, Hangman’s Chair, 11.04.23, Villerupt (FR), L’Arche
Brainfuck im Doppelpack
Das Leben als Musik-Reporter im beschaulichen Moselstädtchen Traben-Trarbach bietet sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits ist man dort ohne Auto aufgeschmissen, da man abends mit der Bahn nicht mehr nach Hause kommt. Die nächste echte Veranstaltungshalle ist der Mergener Hof in Trier, knapp 45 Minuten entfernt. Andererseits befindet man sich mitten im Herzen Europas. Diverse Venues in sechs Bundesländern und vier europäischen Nachbarstaaten sind mit dem Auto innerhalb von zwei Stunden erreichbar. Dies hinterlässt einen nicht selten mit einem wahren Luxusproblem, da man manchmal wählen muss, wo man eine Band auftreten sehen möchte. Im Falle von Igorrrs “Distortion Tour 2023”, für welche dieser nicht nur Amenra als weiteren Hochkaräter mit im Schlepptau hatte, sondern darüber hinaus auch noch Der Weg Einer Freiheit und Hangman’s Chair, bedeutete dies, zwischen zwei etablierten Hallen wählen zu müssen: dem Wiesbadener Schlachthof und der Kölner Live Music Hall. Terminlich beides nicht optimal, lohnte sich ein genauerer Blick auf die weiteren Tourdaten, unter denen das unscheinbare lothringische Örtchen Villerupt zu finden war. Eine französische Gemeinde unweit der luxemburgischen Grenze und nur einen Steinwurf von der Escher Rockhal entfernt. Näher als Köln, genauso weit wie der Schlachthof. Die perfekte Alternative, vor allem auch, da der Internetauftritt von ᑎ L’Arche sehr vielversprechend war.
Letztendlich übertraf L’Arche die Erwartungen: Nicht nur, dass sich hier ein Konzertsaal, ein Kino, eine Galerie und ein Restaurant unter einem Dach befanden, auch optisch machte der Bau aus Glas und Sichtbeton so einiges her. Und dies vor imposanter Kulisse, den Mauern einer Befestigungsanlage unweit der früheren deutsch-französischen Grenze. Auch akustisch gab es am Konzertsaal nichts auszusetzen, denn innerhalb des Gebäudes herrschte bester Klang. Von der immensen Bühne, die von jedwedem Ort eingesehen werden konnte, ganz zu schweigen. Beste Voraussetzungen also für einen wundervollen Abend.
Hangman’s Chair
Obwohl der Schreiber dieser Zeilen den Namen Hangman’s Chair in der Vergangenheit schon oft gehört hatte, war ihm die Band aus dem französischen Departement Essonne musikalisch bisher vollkommen unbekannt. Und da er sich das Überraschungsmoment nicht vermiesen wollte, hörte er im Vorfeld nichtmals in deren Platten hinein. Im Falle der Franzosen war dies eine weise Entscheidung, denn andernfalls hätte deren Auftritt wohl kaum eine so flashende Wirkung gehabt. Im Kopf bisher unter Doom eingeordnet, stellte sich schnell heraus, dass Hangman’s Chair diese stilistische Kette bereits mit ihrem 2022er Album “A Loner” gesprengt hatten.
So erinnerte das Quartett vielmehr an eine Post-Rock-lastige Variante von Type O Negative. Dynamische Gitarren und ein ansprechender Bass-Sound ließen wohlige Gefühle aufkommen. Zum Dreamgaze wäre es von hier aus nicht mehr weit gewesen. Ein wunderlicher Weise äußerst sanfter Einstieg in den Abend.
Besetzung:
Julien Chanut
Mehdi Birouk Thepegnier
Clement Hanvic
Cedric Toufouti
Der Weg Einer Freiheit
Auch die Würzburger Band Der Weg Einer Freiheit war für den Redakteur bis dahin unbekanntes Territorium gewesen. Doch entsprach die musikalische Ausrichtung in deren Falle ganz und gar den vorherigen Erwartungen. Musikalische Avantgarde der schwarzmetallischen Sorte: Progressiv, experimentell und post-metallisch.
Es war eine Ausrichtung, die dem Großteil des Publikums besser zu gefallen schien als jene des Openers. Denn während man bei Hangman’s Chair noch zu träumen schien, weckten die markigen Klänge der Franken nach und nach auch den letzten Zuschauer auf.
Besetzung:
Nikita Kamprad
Alan Noruspour
Nico Ziska
Tobias Schuler
Amenra
Amenra gemeinsam mit Igorrr auf Tour zu schicken, das war schon eine wilde Entscheidung. Denn obwohl sowohl die Belgier als auch der Franzose dem experimentellen Metal zuzuordnen sind, könnten deren musikalische Ausrichtungen kaum unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite das wahnwitzige Potpourri aus Extreme Metal, Breakcore, Klassik, Musette und Barockmusik des Gautier Serre, auf der anderen der finstere Crossover aus Post Metal, Sludge und Hardcore der Priester der Church Of Ra. Selbst wenn man Anhänger beider Gruppierungen ist, blieb die Frage offen, inwieweit die beiden musikalischen Extreme miteinander harmonieren würden. Amenra jedenfalls gingen keine Kompromisse ein, indem sie sich etwa den Fans Igorrrs anbiederten. Was auch nicht zu erwarten gewesen war. Stattdessen zogen sie einfach ihr Ding durch.
Trotzdem war dieser Abend ander geartet als ein gewöhnlicher Auftritt des Flamen. Schließlich stand ihnen als vorletzter Band weniger als eine Stunde Spielzeit zur Verfügung. So legte man den Schwerpunkt des Sets auf die sechste Messe der Band, das 2017er Album “Mass VI”. Hohepriester Colin H. van Eeckhout zelebrierte seinen Gottesdienst, wie man es von ihm gewohnt ist, überwiegend vom Publikum abgewandt. Und doch konnte man nicht nur den Rücken des Sängers sehen, sondern man konnte des Öfteren auch dessen Antlitz erblicken. Denn die Bühne des L’Arche war etwas heller erleuchtet als es für Amenra-Auftritte üblich ist. Der Stimmung im Publikum tat dies keinen Abbruch, denn die wahren Jünger Amenras hinderte die Helligkeit nicht daran, sich in Trance versetzen zu lassen. Amenra traten schließlich so emotional und intensiv auf,dass man sich ihrer Musik kaum entziehen konnte. Ein ergreifendes Erlebnis. Eigentlich genug für den Abend!
Besetzung:
Colin H. van Eeckhout
Mathieu Vandekerckhove
Tim De Gieter
Bjorn Lebon
Lennart Bossu
Igorrr
Und damit waren wir beim Dilemma des Abends. Denn hatte man sich wirklich auf Amenra eingelassen und sich deren Musik hingegeben, so war man bereits zu diesem Zeitpunkt geplättet. Igorrr vermochte es jedoch, das Publikum noch einmal aus seiner Trance zu reißen. Und zwar von der ersten Sekunde an. Das ausgiebige elektronische Intro sowie die anschließenden Breakcore-Klänge von ‘Paranoid Bulldozer Italiano’, die Mastermind Gautier Serre hinter seinem DJ-Pult hervorzauberte, teleportierten die Zuschauer von einem Extrem ins nächste. Schlagzeuger Sylvain Bouvier sowie Gitarrist Martyn Clément stiegen nach einem verlängerten nach kurzer Zeit mit ein und präsentierten dem Publikum die volle Breitseite, bevor die erst kurz vor der Tour zur Band gestoßene Mezzo Soprano Marthe Alexandre sowie Extrem-Vokalist Jean-Baptiste Le Bail die Live-Band Igorrrs sowie das akustische Gesamtbild vervollständigten. Optisch ansprechend. Akustisch überstrapazierend. Genau das, was man sich erhofft hatte. Überaus wirksam. Im Guten wie im Schlechten. Im Guten, weil das Gebotene außerordentlich war: Der Klang, die Optik, die Performance. Im Schlechten, weil es selbst dem Redakteur zwischenzeitlich immer wieder zu viel wurde, sodass regelmäßige Pausen vonnöten waren.
Eine wilder Ritt durch diverse Musikgenres, der schon auf Platte verrückt erschien, einen live aber regelrecht in den Wahnsinn trieb. ‘Nervous Waltz’, ‘Downgrade Desert’, ‘Camel Dancefloor’ – Igorrr und Konsorten spielten nicht nur die Burner von “Spirituality And Distortion”, sondern fast das komplette 2020er Album. Dazu Auszüge der Vorgängerscheibe “Savage Sinusoid” wie etwa den Breakcore-Brainfuck ‘Viande’ oder die Gute-Laune-Abdreh-Hymne ‘Opus Brain’. Und als Abschluss des Hauptsets ein fulminantes ‘Himalaya Massive Ritual’.
Und als ob man zu diesem Zeitpunkt nicht schon genug gehabt hätte, ließen sich die Musiker natürlich nicht um eine Zugabe lumpen und schickten die Zuschauer mit ‘Cheval’, je nach Vorlieben, in den Musette-Himmel bzw. in die Musette-Hölle. Es folgten im weiteren ein Medley aus ‘Apopathodiaphulatophobie’ und ‘Robert’, bei welchem die Stimmen der beiden so gegensätzlichen Frontleute noch einmal wunderbar aufeinanderprallten, bevor der Abend mit dem fast vollelektronischen ‘Very Noise’ als Quasi-Danceparty zu Ende ging.
Was im Anschluss folgte, war eine Rückfahrt mit anderthalb Stunden der Stille. Denn jegliche weiteren musikalischen Klänge hätten ein menschliches Gehirn zum Überkochen bringen können.
Besetzung:
Gautier “Igorrr” Serre
Marthe Alexandre
Jean-Baptiste “JP” Le Bail
Sylvain Bouvier
Martyn Clément
Fotos: Prog in Focus
Chauffeur & Suport: Thomas Pohl
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Amenra • Cave In • Marissa Nadler – “Songs Of Townes Van Zandt Vol. III” (2022)
“De Doorn” (2021)
“Mass VI” (2017)
Konzert- & Festivalberichte:
19.05.23, Gent (BE), Viernulvier, Dunk!Festival 2023
06.04.22, Köln, Essigfabrik
04.04.22, Esch-Uelzecht (LU), Rockhal Club
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