Stimmwunder Einar Solberg
Leprous hatten in den vergangenen Jahren auf gefühlt jedem Prog-Festival gespielt. Hier die Aufführung eines Albums in voller Länge, dort ein Best-of-Programm und immer wieder auch eine Setlist nach Wünschen der Zuschauer. Die letzte reguläre Tour der Norweger dagegen liegt schon wieder drei Jahre zurück. Und obwohl vor allem die beiden letzten Alben, “Pitfalls” und “Aphelion”, eher dem Avantgarde als dem Prog Metal zuzuordnen waren, konnte man sich darauf freuen, v.a. die Stücke der aktuellen Platte endlich einmal im Live-Kontext zu erleben. Denn schon auf den Konzerten der Pitfalls-Tour hatte sich gezeigt, dass Leprous im Live-Kontext viel heavier wirken und mehr Tiefgang erzeugen als auf Tonträger.
Nachdem Leprous im Oktober 2021 noch im großen Saal – der Rockhal Box – aufgetreten waren, mussten die Skandinavier dieses Mal mit dem weitaus kleineren Rockhal Club vorliebnehmen. Eine gute Entscheidung, denn seinerzeit hatte man den großen Saal mit Vorhängen künstlich verkleinern müssen. Heute dagegen war die kleinere Halle sehr gut gefüllt, was sich vor allem für die Vorbands als Vorteil erwies. Wer will schon vor nur spärlich gefüllten Reihen auftreten?
Kalandra
Kalandra wären vielleicht noch am ehesten mit einem kleinen Publikum zufrieden gewesen, denn sie waren verglichen mit Monuments die weitaus unbekanntere Band in progressiven Kreisen. Insbesondere auch in den nicht existenten Räumlichkeiten unserer Online-Redaktion. Nordisch. Mystisch, Folkloristisch. Das waren die Schlagworte, die eine kurze Vorabrecherche ergeben hatten. Zu dem optischen Erscheinungsbild der Norweger passte diese Beschreibung allerdings nur bedingt. Denn während Frontfrau Katrine Stenbekk immerhin noch so wirkte, als wäre sie gerade von einem Schwarz-Bunt-Treffen gekommen, präsentierten sich ihre Mitmusiker im Longhair-Cowboy-Look.
Die Musik dagegen passte zu einhundert Prozent zu der obigen Beschreibung, denn die erhabene Musik Kalandras verströmte von Beginn an eine Atmosphäre zwischen Ethno und Ambient. Druckvoll gespielt, aber weder Rock noch Metal. Heavy Folk war da schon die passendere Beschreibung. Ein intensives Musikerlebnis, das durch die helle klare und variable Stimme sowie die starke Bühnenpräsenz der Sängerin zu einem unterhaltsamen Erlebnis wurde. Ein starker Opener, der beim Publikum der Rockhal Eindruck hinterlassen konnte.
Monuments
Ob Monuments an ihre starken Auftritte der Vergangenheit heranreichen könnten, das war wohl eine der spannendsten Fragen dieses Abends gewesen. Denn schließlich hatte die Londoner Djent-& Progressive-Metal-Band nach ihrem 2018er Album “Phronesis” eine Sänger-Wechsel vollzogen. Dass nicht jede Formation den Weggang eines Chris Barretto so gut vertragen kann wie Periphery, dass hatten 2019 bereits The HAARP Machine eindrucksvoll auf dem Euroblast Festival zur Schau gestellt. Doch zum Glück hatten die Engländer Andy Cizek als neuen Frontmann verpflichten können, so dass dem Escher Publikum ein Whooohaaaa-Erlebnis erspart blieb. Und dass er zumindest auf Platte liefern kann, dass hatte er schon eindrucksvoll auf “In Stasis” bewiesen.
Zwar ließen dessen Blümchenhemd und sein leicht bubenhaftes Erscheinungsbild schon Schlimmes erahnen, doch sobald der Sänger seine Stimmbänder vibrieren ließ, wusste man, dass heute nichts schiefgehen konnte. Die Gitarren vielleicht einen Tick zu leise, der Bass dafür aber umso fetter, konnte man in manchen Momenten vergessen, dass es sich hier um Djent handelte. Aber egal, denn das Energielevel, das auf der Bühne herrschte, war äußerst hoch. Nur schien dies nicht wirklich aufs Publikum überzugreifen, denn die Zuhörer in der Rockhal zeigten sich in ihren Reaktionen äußerst verhalten. Ziemlich enttäuschend, wenn ein Moshpit aus drei oder vier hüpfenden Personen besteht. Monuments hingegen ließen sich von diesen Umständen nicht verunsichern und lieferten einen Auftritt ab, bei dem sich Brachialität und Melodiegefühl auf angenehme Weise die Waage hielten.
Dass das Ganze dann doch auch irgendwie dem Auditorium gefallen hatte, das zeigte sich beim Applaus am Ende des Sets. Schön, dass die Luxemburger wenigstens beim Abschied der Band ein wenig aus sich herausgehen konnten. Monuments hatten es definitiv verdient!
Leprous
Bei Leprous hätte man fast vergessen können, dass sie spätestens mit “Pitfalls” den Weg des Progressive Metals verlassen hatten, denn in den Jahren, seit dem Erscheinen dieses Albums hatte die Band vornehmlich ältere Alben in Gänze aufgeführt, Wunschlisten der Fans gespielt oder ein Best-Of-Set präsentiert. Anders an diesem Abend. Zumindest phasenweise. Das machte schon der Opener ‘Have You Ever?’ vom aktuellen Album “Aphelion” deutlich. Keine Gitarren. Stattdessen zwei Keyboards, Schlagzeug, Cello und Bass und dazu ein Sänger, der zwischen Sprechgesang, Gewinsel und Fistelstimme hin- und herwechselte. Ein Albtraum für Fans der Anfangstage der Band, Prog suchte man bei diesem Stück genauso vergebens wie Rock und Metal. Für Freunde der Avantgarde allerdings ein Leckerbissen! Und gleichzeitig ein Auftakt, der den Bandklassiker ‘The Price’, der im direkten Anschluss folgte, mit doppelter Wucht einschlagen ließ. Die zwei Gitarren von Robin Ognedal und Tor Oddmund Suhrke peitschten nach vorne, der Bass-Sound von Simen Børven war eine Wonne und Baard Kolstad mutete hinter seinem Drum-Kit wieder einmal an wie Das Tier. Dazu Synthie-Teppiche, die mittlerweile nicht mehr aus der Band wegzudenkende Streicher-Begleitung von Cellist Raphael Weinroth-Browne und natürlich die kraftvolle Stimme Einar Solbergs. Welch ein Kontrastprogramm!
Dass sich der Frontmann im Anschluss an sein Publikum wenden würde, um sich bei diesem zu entschuldigen, hätte man bis dahin kaum vorhersehen könne. Vor allem nicht, dass er für seine vermaledeite Stimme um Verzeihung bitten würde. Hörte man jedoch erst einmal seine leicht krächzende Ansage , so verstand man unweigerlich, was los war. Einars Stimmbänder waren während des Tourens in Mitleidenschaft genommen worden. Dass man dies bisher nicht hatte vernehmen können, das war den grandiosen Sangeskünsten dieses Künstlers geschuldet. Denn Einar Solberg hatte bis zu diesem Zeitpunkt, für den Zuhörer kaum wahrnehmbar, nur auf seine Kopfstimme zurückgegriffen. Dies sollte auch für den weiteren Verlauf des Abends so bleiben. Einzige Ausnahme: Die Growls, die er punktuell bei Stücken aus seinem Körper herauszauberte. Wer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht begriffen hatte, welch ein Stimmwunder der Norweger ist, der hatte jetzt mit den eigenen Ohren den unwiederbringlichen Beweis erfahren.
Dass Leprous insgesamt fünf Stücke von “Aphelion” spielten war unter diesen Umständen doppelt verständlich. Umso erfreuter konnte man als Alt-fan sein, dass die Osloer auch die Vorgänger-Alben gebührend würdigten. Weiter als zehn Jahre griff man in der Band-Historie jedoch nicht zurück, sodass ‘The Cloak’ das älteste Stück in der Setlist war. Die energetischen ‘Third Law’ und ‘From The Flame’ auf der einen Seite, ‘Castaway Angels’ und ‘Out Of Here’ auf der anderen Seite ihres musikalischen Spektrums. Leprous fanden eine ausgewogene Mischung zwischen energetischen Hits und erhabener Avantgarde.
Und dazu mit ‘Nighttime Disguise’ als Closer sowie ‘The Sky Is Red’ als Zugabe zwei Titel, die zwar vorhersehbar waren, aufgrund ihrer Grandeur genau an diesen Stellen unabdingbar waren.
Ein rundum gelungener Auftritt. Auch wenn Einar Solberg das vielleicht anders gesehen haben mochte
.Fotos: Inga Fischer Photography
Fotobearbeitung: Prog in Focus
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Rezensionen:
“Live 2022″/”Aphelion” (Tour Edition) (2023)
“Aphelion” (2021)
“Pitfalls” (2019)
“Malina” (2017)
“Live At Rockefeller Music Hall” (2016)
“The Congregation” (2015)
“Coal” (2013)
“Bilateral” (2012)
“Tall Poppy Syndrome ” (2009)
Konzert- & Festivalberichte:
25.06.22, Valkenburg aan de Geul (NL), Openluchttheater, Midsummer Prog Festival 2022
16.04.22, Eindhoven (NL), Effenaar, Grote Zaal, Prognosis Festival 2022
08.12.21, Esch-Uelzecht (LU), Rockhal Box
08.02.20, Dortmund, Junkyard
05.11.19, Köln, Die Kantine
04.06.16, Oslo (NO), Rockefeller Music Hall
06.04.16, Essen, Turock
27.04.13, Amstelveen (NL), P60, Headway Festival
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