Die Deutung des Mondkalenders
Gewiss waren die vergangenen beiden Jahre Zäsur für alle Chinesen. Die Erfahrungen und Erlebnisse eben dieser – nach der chinesischen Chronologie Xin-Chou und Ren-Yin (= Painful Clown & Ninja Tiger) betitelten Jahre – werden von Wang Wen in ihrem aktuellen Album zu Sound verarbeitet. Und dieser Sound mit all seinen Turbulenzen sowie musikalischen und stilistischen Querschlägen ist wieder Kino im Breitwandformat. Der bei Carsten Fragen an die Band aufrief.
Was geht ab in Dalian?
Wir haben gerade die letzten beiden Shows hier in unserer Heimatstadt Dalian beendet, das ist auch das Ende unserer China-Tour für das neue Album “Painful Clown & Ninja Tiger”. Nach all der Absage und Verzögerung aufgrund der verrückten Covid-19-Sperrpolitik haben wir es endlich geschafft, wieder zu touren. Unser Tour-Team leistete hier Unvorstellbares und auch das Publikum kam unter diesen schwierigen Umständen zu unseren Shows in verschiedenen Städten.
Da mich das Schreiben von Texten und das Singen wirklich stört, waren diese Bands ohne Texte wirklich aufschlussreicher für mich.
Um ehrlich zu sein: Nichts scheint weiter weg als eine chinesische Band, die Post-Rock spielt. Wie konnte so etwas passieren?
Als wir die Band etwa 1999 gründeten, liebten wir, wie die meisten chinesischen Bands zu dieser Zeit, Nirvana, die Smashing Pumpkins usw. Der Grunge-Sound schien die einzige Energie für uns zu sein. Da die Musikressourcen für uns äußerst begrenzt waren, blieb uns nur die Verwendung von DaKou-Kassetten oder DaKou-CDs (geschnittene Kassetten/CDs, die als Plastikmüll nach China verschickt wurden).
Bis 2002 (damals gab es in China noch keine Internetsperre) konnten wir über Websites wie Soul Seek oder E-Mule usw. viel mehr Musik aus dem Internet herunterladen und anhören. Und wir teilen gerne Musik mit anderen Freunden, die auch Rockmusik lieben. Das war die Zeit, in der ich mir Bands wie GY!BE, Mogwai, Tortoise oder Mono anhören konnte. Da mich das Schreiben von Texten und das Singen wirklich stört, waren diese Bands ohne Texte wirklich aufschlussreicher für mich. Ja, so ungefähr fing das alles damals an.
“There’s a Walmart Underneath The Olympic Square” heißt einer eurer neuen Songs. Ist das eine chinesische Story?
Unser Studio befindet sich in der Nähe des Olympiaplatzes in Dalian. Früher befand sich gegenüber dem Platz ein Stadion, doch eines Tages wurde das Stadion abgerissen, so dass nur noch der leere Platz mit den Olympischen Ringen übrig blieb. Für mich war das auf chinesische Art sehr dramatisch. Und es gibt tatsächlich einen Walmart unter dem Platz. Eines Tages im letzten Winter, als ich dorthin ging, sagte mir der Wachmann, dass Menschen ohne N95-Gesichtsmaske keinen Zutritt hätten. Für mich war das auch eine sehr chinesisch-dramatische Art.
Und wie ging es euch in den harten Zeiten von Corona?
Jeder schien in diesen schwierigen Zeiten ein ziemlich guter und sparsamer Koch zu werden, der sich jeden Tag Sorgen über den Mangel an Essen machte.
Was genau bedeutet der Albumtitel “Painful Clown & Ninja Tiger”?
Der chinesische Name des Albums ist “辛丑&壬寅”, was das chinesische Mondjahr 2021 und 2022 bedeutet. Es handelt sich um die traditionelle chinesische Deutung des Mondkalenders, bei der zehn himmlische Stämme und zwölf irdische Zweige zusammenarbeiten. Für den englischen Namen des Albums habe ich jedes einzelne chinesische Schriftzeichen übersetzt und zusammengesetzt, dann habe ich die andere Bedeutung erhalten: “Painful Clown & Ninja Tiger” anstelle der chinesischen Luna-Jahres-Bedeutung.
Es gibt einige Post-Rock-Bands in China. Zhao Ze, Sparrows, Shang haiQiutian oder Amber zum Beispiel.
Gibt es in China so etwas wie eine Postrock-Szene?
Ja, es gibt einige Post-Rock-Bands in China. Zhao Ze, Sparrows, Shang haiQiutian oder Amber zum Beispiel. Vor allem in den letzten Jahren treten viele junge Post-Rock-Bands auf den Bühnen des Landes auf.
Ihr habt das Vorgängeralbum “Invisible City” in Island aufgenommen. Wie war diese Erfahrung für euch?
Es war eine tolle Zeit für uns. Das Wetter und die Landschaft in Island waren so attraktiv. Und die Vintage-Musikinstrumente im Studio von Sundlaugin sind fantastisch. Das alles half uns bei der Entstehung von “Invisible City”.
Wo genau sind eure Einflüsse zu suchen?
Die Einflüsse variieren mit der Zeit. Hauptsächlich stammt es aus der Musik, aber auch aus dem politischen Umfeld. Für mich waren die letzten 3 Jahre wie ein anderes Leben.
Beinahe 25 Jahre Wang Wen. Was ist euer Fazit nach all den Jahren?
Pläne schmieden, improvisieren und sich konzentrieren.
Was geht bezüglich einer Tour außerhalb Chinas? Vielleicht bald wieder Deutschland?
Wir haben gerade die China-Tour beendet. Jetzt planen wir die Südostasien-Tour Ende 2023 und dann die Europa-Tour etwa im Mai 2024. Wir hoffen, Euch dann alle zu sehen!
Surftipps zu Wang Wen (惘闻):
Homepage
Facebook
VKontakte
Instagram
Bandcamp
Soundcloud
YouTube
YouTube Music
Spotify
Apple Music
Amazon Music
Deezer
Tidal
Qobuz
Shazam
last.fm
MusicBrainz
Discogs
Prog Archives
Wikipedia
–
Rezension “Painful Clown & Ninja Tiger” (2022/2023)
Rezension: 100,000 Whys (十万个为什么) (2020/2021)
Rezension: “Invisible City” (2018)
Rezension: “Sweet Home, Go!” (2016)
Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Pelagic Records zur Verfügung gestellt.