Ganz schön die Hosen voll!
In Zeiten von Streaming-Plattformen sind die deutschen Album-Charts natürlich kein so aussagekräftiger Indikator mehr für den Erfolg eine Band wie sie es vor ein paar Jahrzehnten noch waren. Nichtsdestotrotz spricht eine Top-Ten-Platzierung auch heute noch eine deutliche Sprache dafür, dass eine Gruppe einen nicht mehr vernachlässigbaren Bekanntheitsstatus erreicht hat. Dass FJØRT mit ihrem aktuellen Album “nichts” sogar Platz 8 erreichen würden, das war trotz immer größerer werdender Beliebtheit der Band so nicht zu erwarten gewesen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass die Aachener nicht im überschaubaren Kesselhaus, sondern in der großen Halle des Wiesbadener Schlachthofes auftreten würden. Dass die auftretenden Künstler im Vorfeld des Konzertes jedoch nichts von diesem Umstand mitbekommen haben sollten, das schien allerdings weniger glaubwürdig.
Shitney Beers
Als Opener im Gepäck hatten FJØRT an diesem Abend ihre Grand-Hotel-van-Cleef-Label-Kollegin Maxi Haug, die auf der Bühne unter dem Künstlernamen Shitney Bears auftrat. Eine junge Künstlerin, die ganz alleine unterwegs war und lediglich von ihrer Gitarre begleitet wurde. So wirkte die Bühne des Schlachthofes dann auch um einige Nummern zu groß für die Künstlerin und diese darauf ein wenig verloren. Auch die Musik der Künstlerin war nicht unbedingt das, was man von einem Support-Act für FJØRT erwartet konnte. Sanfte Singer-Songwriter-Kunst mit leichten Ausschlägen in Richtung Grunge und Indie. Shitney Spears war sich dieses Kontrastes gegenüber dem Headliner wohl selbst bewusst. Auch ihr selbst schien die Bühne in Wiesbaden wohl einige Nummern zu groß zu sein. Jedenfalls verhielt sie sich dementsprechend. So griff Shitney Bears ihre Andersartigkeit und vermeintliche Schwäche im Laufe des Auftrittes immer wieder auf und verwandelte diese in Rüstung und Angriffswaffe zugleich. Kommentare wie “Jetzt habt ihr mich an der Backe!” oder “Ich glaube, Hessen findet mich nicht so lustig” ließen die Zuschauer im Dunkeln darüber, ob dies alles Teil ihrer Show oder echte Unsicherheit war. Schwankend zwischen Selbstzweifel, Selbstironie und Selbstbewusstsein, waren die Monologe der Künstlerin undurchschaubar und lagen trotzdem viel schwerer in der Waagschale als ihre Musik.
Diese hatte übrigens den Anschein, als wäre sie ausschließlich aus den Amps der Musikerin gekommen und nicht über die PA der Halle. Ein Klangbild, das absolut passend zur Gesamterscheinung der Künstlerin war. Teilen des Publikums ging der Auftritt Shitney Bears sichtlich komplett am Arsch vorbei. Spätestens bei einem Rülpser inmitten eines melancholischen Stückes war es für viele vorbei gewesen. Andere Zuschauer wiederum schienen fasziniert von der eigenwilligen Aura der Künstlerin. Denn ihre flapsige Art besaß durchaus ihren Reiz. Ein Charme, der allerdings besser auf die Bühne eines entspannten und überschaubaren Sommer-Open-Airs gepasst hätte. Denn obwohl es am Ende des Auftrittes mehr Applaus gegeben hatte, als man hätte annehmen können, hatte Shitney Bears unterm Strich doch ein wenig fehl am Platz gewirkt. Ignorieren oder vergessen konnte man diesen bemerkenswert eigenwilligen Auftritt trotz alledem auch nicht.
FJØRT
Für FJØRT dagegen hätte die Bühne des Schlachthofes an diesem Abend durchaus noch größer sein dürfen. Denn die Aachener Band strotzte nur so vor Energie und brach über Wiesbaden herein wie ein Hurrikan. Derwischen gleich fegten FJØRT immer wieder wild über die Bretter und lebten die Emotionen aus, die sich hinter ihren oft sehr tiefgründigen Texten verbergen. Intelligenter deutschsprachiger Post Hardcore, der manchmal verspielt und dann wieder mit der Brechstange daherkam. Musik, deren Energie wie ein Kugelblitz aufs Publikum übersprang und umso aufrüttelnder wurde, desto weiter die Vocals von Gesang in Geschrei verfielen. So wurden für jeden Zuschauer die Emotionen hinter den Stücken greifbar, auch ohne, dass man die Texte kennen oder verstehen musste. Ergriffen, aufgewühlt und berührt feierten die Anwesenden Fans ihre Lieblinge ausgiebig. Zwar nur selten im großflächigen Moshpit – dafür aber in einer sich fortwährend auf- und abbewegenden Menge.
Die Stücke, vorwiegend von den drei letzten Platten der Band, harmonierten sehr stimmig miteinander. So standen die Reaktionen auf Lieder des neuen Albums “nichts” denen älterer Platten in nichts nach. Ganz im Gegenteil, ein Stück wie ‘Fernost’ wurde noch frenetischer mitgesungen und abgefeiert, als Bandklassiker wie ‘Valhalla’ oder ‘Coleur’. What a Party!
Aber nicht nur die, auch die oft sehr Post-Rock-lastigen Zwischentöne wurden von FJØRT in aller Ausgiebigkeit ausgelebt. Stilmittel, die aufgrund ihres Kontrastreichtums nicht nur äußerst wirksam waren, sondern die Wirkung der Hits noch verstärkten. Doch auch bei FJØRT war an diesem Abend nicht alles Musik, auch die Kommunikation mit dem Publikum wurde großgeschrieben. FJØRT blickten auf ihre immer besser in Schwung kommenden Karriere zurück und erzählten die ein oder andere Anekdote aus der Bandgeschichte. Die Dankbarkeit gegenüber allen, die sie sie auf diesem Wege begleitet hatten, stand dabei immer wieder im Mittelpunkt und insbesondere auch das ungläubige Staunen über den eigenen Erfolg. Eine Auftreten, das äußerst sympathisch und authentisch herüberkam. Jedenfalls so lange, bis die Musiker dem Publikum weismachen wollten, dass sie erst kurz vor Beginn des Konzertes davon erfahren hätten, dass sie in der großen Haupthalle des Schlachthofes spielen würden:
Wir hatten heute morgen ganz schön die Hosen voll. Wir dachten, wir spielen im Kesselhaus.
Wer’s glaubt wird selig! Wie unnötig, denn im siebten Himmel waren zu diesem Zeitpunkt sowieso schon alle gewesen.
Fotos: flohfish
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VinylCorner: “nichts” (Ltd. 7″ Deluxe Boxset) (2022)
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Veranstalter & Venue: Schlachthof