An Ocean Of People
Das Berliner Progressive-Post-Metal-Collective The Ocean ist schon länger kein Geheimtipp mehr. Schon gar nicht für die Redaktion von Betreutes Proggen, sodass es nur konsequent war, dass deren Tour im Vorprogramm von Karnivool zu unserer Tour des Monats Januar 2023 auserkoren wurde. Dass wir von dieser Konzertreise aus krankheitsbedingten Gründen nicht berichten konnten war leider nicht zu vermeiden. Umso mehr freuten wir uns darüber, als Rodney Fuchs uns im Rahmen eines Konzertes seiner Band Monosphere beim Aachener Reincarnation Fest verkündete, dass er The Ocean für einen gemeinsamen Auftritt im Mainzer Schon Schön hatte gewinnen können. Einem kleinen Club mit einem Fassungsvermögen von ca. 250 Zuschauern. Ein Auftritt also, der eine ganz besondere intime Atmosphäre versprach, denn eigentlich sind The Ocean für eine Bühne dieser Größe längst zu groß geworden.
Monosphere
Dass die Berliner nicht nur im übertragenen Sinne zu groß geworden waren wurde jedem schnell deutlich, der schon einmal einem Konzert im Schon Schön beigewohnt hatte. Denn die Bühne des Kulturclubs musste tatsächlich vergrößert werden, da ansonsten nicht alle sechs Bandmitglieder mitsamt ihren Instrumenten auf dieser Platz gefunden hätten. So nahmen Bühne, Zuschauerraum, Merchandise-Stand und Theke ungefähr jeweils ein Viertel der Fläche des Ladens ein. Welch ein Kuriosum! Und natürlich war das Auditorium des Schon Schön dementsprechend bis zum Anschlag gefüllt. So galt bereits beim Auftritt Monospheres das Motto: Voller geht’s nicht!
Verstärkt wurde dieses Völlegefühl noch durch die Tatsache, dass schon kurz vor Beginn von Monosphere ein so dichter Nebelschleier im Inneren des Clubs lag, dass man sich an das London des 19. Jahrhunderts erinnert fühlte.
Bereits bei ihrem Auftritt zwei Wochen zuvor im Aachener AZ hatten die Mainzer einige Stücke ihres noch unveröffentlichten zweiten Studio-Albums uraufgeführt und auch an diesem Abend starteten Monosphere wieder mit zwei neuen Stücken. Dabei waren ‘I Am To Blame’ mit seinem atmosphärischen Intro und ‘Smoke And Wires’ der perfekte Auftakt für diesen Abend, denn die knüppelharten Stücke stachen gegenüber den Songs von “The Puppeteer” durch ihre verstärkten Post-Rock-Einflüsse heraus. Mit ‘The Luminary’ und ‘The Disconnect’ folgten zwei Highlights des Debütalbums, bei denen schnell deutlich wurde, dass insbesondere der Klargesang von Kevin Ernst technisch gereift war.
Altes und Neues wechselten sich im weiteren Verlauf immer wieder ab, was der Stimmung im Publikum zu Gute kam, da das Ablegen konzeptioneller Zwänge der Band eine gewisse Form von Leichtigkeit und Freiheit verschaffte. Klanglich gut abgemischt dominierte neben Frontmann Kevin Ernst vor allem das Schlagzeugspiel von Rodney Fuchs das Klangbild. Und als ob dies nicht zu genüge seine Position als Songwriter der Band verdeutlichte, zog dieser immer wieder die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich, da er regelmäßig auf seinen Hocker stieg. Gegen Ende ihres Sets näherten sich Monosphere immer weiter dem Sound von The Ocean , was nicht nur bei ‘The Marionette’ deutlich wurde, sondern auch beim abschließenden neuen Stück namens ‘Turing Test’, das deutlich Post-Metal-lastiger daher kam als der Durchschnittsmarionettenspieler. Es bot noch einmal die volle Breitseite aus Härte, Aggressivität, Durchschlagskraft, und flirrender Atmosphäre, welche vom Publikum begeistert entgegengenommen wurde. Ein weiteres Aufwärmen vor dem Main Act wäre wahrscheinlich zu viel des Guten gewesen, denn wer bis zu diesem Zeitpunkt nicht heiß gewesen war, der war es spätestens jetzt.
The Ocean Collective
So brauchten The Ocean dann auch keine Sekunde Vorlaufzeit. Ganz im Gegenteil. Das Publikum wogte schon nach den ersten Sekunden des Intros zu “Triassic” wie das Wellenmeer eines Ozeans. Denn die wabernden Synthie-Sounds des Klangkünstlers Peter “SHVRL” Voigtmann ließen die Atmosphäre im Schon Schön noch dichter werden und immer weiter anschwellen. Als Frontmann Loïc Rossetti dann mit seiner sanften Stimme einstieg, schien diese wie ein kleines Boot über das Meer zu schweben, bevor mit dem Einsetzen der weiteren Kollektiv-Kollegen ein wahrer Orkan hereinbrach. Ein dynamisches Wechselspiel aus Sanftheit und Heavieness, dass durch die zahlreichen Tempovariationen surreal, ja fast mystisch wirkte.
Das Publikum schien mittlerweile im auf- und abbrausenden Ozean zu schweben, war durch die unmittelbare Nähe zu Bühne und Band quasi eins mit ihnen geworden. Wie ein einziger Organismus. Alles war so eng und dicht, dass jede Bewegung an einem Ende der Menge noch an deren anderem Ende zu spüren war. Band, Musik und Publikum verschmolzen zu einer Einheit. Mehr Intimität wäre kaum zu erreichen und wohl auch nicht erstrebenswert gewesen.
Dass es leider noch keinen Vorgeschmack auf das am 19. Mai erscheinende neue Album “Holocene” gab, wurde da zur Nebensache. Stattdessen fokussierten sich The Ocean auf eine Art Best Of ihrer drei letzten Alben: “Pelagial”, “Phanerozoic I: Palaeozoic” und “Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic”, wobei der Schwerpunkt des Sets auf dem jüngsten Album lag. Aber das war eigentlich ganz egal. Bandleader Robin Staps und seine Kollegen hätten an diesem Abend alles spielen und kaum etwas falsch machen können. Trotzdem taten Abwechslungen gut, da sie die Dynamik erhöhten. Wie beispielsweise die Übernahme der Lead-Vocals bei der ersten Zugabe, dem orientalisch angehauchten ‘Holocene’, durch Paul Seidel, dessen Position hinterm Schlagzeug kurzerhand mit SHVRL besetzt wurde, wofür es sich Frontmann Loïc im Gegenzug hinter den Keyboards gemütlich machte. Eine letzte Windstille, bevor das abschließende ‘Jurassic | Cretaceous’ noch einmal für ein regelrechtes Seebeben im Schon Schön sorgte. Wahnsinn!
Ende war hiernach allerdings noch lange nicht, denn The Ocean hatten sich eines wohl ihrer beeindruckendsten Stücke für den Schluss aufgehoben: ‘Cambrian II: Eternal Recurrence’ mit ‘The Cambrian Explosion’ als unverzichtbarer Einleitung wurde so zum absoluten Höhepunkt eines unvergesslichen Wellenrittes. Ein wohl einmaliges Erlebnis, denn der Ozean wird zukünftig wohl noch zu höheren Wellenbergen anschwellen.
Fotos: JacQue_Photography
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Festivalbericht: 15.04.22, Eindhoven (NL), Effenaar, Grote Zaal, Prognosis Festival 2022
Rezension: “Phanerozoic Live” (2021)
Festivalbericht: 13.11.21, Neunkirchen, Neue Gebläsehalle, Gloomaar Festival 2021
Konzertbericht: 05.11.19, Köln, Die Kantine
Rezension: “Phanerozoic I: Palaeozoic” (2018)
Festivalbericht: 06.10.13, Baarlo (NL), Sjiwa, ProgPower Europe 2013
Rezension: “Precambrian” (2008)
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Konzertbericht: 26.05.22, Mainz, Schon Schön
Rezension: “The Puppeteer” (2021)
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Veranstalter & Venue: Kulturclub Schon Schön