Porcupine Tree, 04.11.22, Stuttgart, Porsche Arena
Closure Or Continuation?
2021: Steven Wilson veröffentlichte mit “The Future Bites” sein bis dato wohl kontroversestes Solo-Album. Der vorläufige Höhe- bzw. Tiefpunkt einer Entwicklung, die eingefleischten Prog-Fans mehr als zuwider war. Dabei hatten sie insgeheim gehofft, dass Herr Wilson aus “To The Bone” und dessen gefloppter Single ‘Permanating’ gelernt und dem Pop endgültig abgeschworen hätte. Wollte der als Prog-Heiland gefeierte Musiker tatsächlich Stammgast im ZDF-Morgenmgazin werden? Scheinbar, denn die Ankündigung einer detailreich produzierten Hallentournee zu “The Future Bites” verhieß nichts Gutes. Doch dann kam alles anders. Nachdem schon die Veröffentlichung des Albums verschoben worden war, widerfuhr der Tour, die für den Anschluss geplant war, das Gleiche. Allerdings nur ein einziges Mal. Denn als die Pandemie einfach nicht enden wollte, entschied sich Steven Wilson dazu, nicht noch einmal umzuplanen, sondern die “The Future Bites”-Tour ersatzlos abzusagen. Wobei… nicht ganz. Anfang 2022 tauchten urplötzlich, wie aus dem Nichts, Porcupine Tree wieder aus der Versenkung auf. Zwar ohne Bassist Colin Edwin, dafür aber mit neuem Album: “Closure/Continuation”. Und nur wenige Monate später sollte es die Modern-Prog-Legende dann auch live und in Farbe geben. Konnte das alles wahr sein? Konnte man das alles überhaupt ernst nehmen? Vom Paulus zum Saulus und wieder zurück? Scheiß egal! Porcupine Tree waren wieder! Mit neuem Album! Und noch besser: Endlich auch wieder live auf Tour! Das konnte man sich nicht entgehen lassen. Wie sollte man auch eine verpasste, vielleicht einmalige Porcupine-Tree-Reunion später gegenüber seinen Kindern und Enkeln rechtfertigen bzw. erklären? Einen etwaigen Boykott etwa mit zwei Pop-Alben, die noch immer zu komplex für den Mainstream waren, begründen? Eine ganz schlechte Ausrede. Dann lieber das Risiko einer Enttäuschung riskiert und ein paar teure Tickets gekauft. Für eine gefühlt viel zu große Bad Canstatter Porsche Arena. Denn wer wollte schon solch einen anonymen Rahmen haben. Waren Porcupine Tree auf der letzten Tour nicht noch im gemütlichen Stuttgarter LKA aufgetreten? Aber so ist das wohl mit Legenden. Sie werden immer dann berühmt, wenn sie sich rarmachen… Aber auch egal. Hauptsache dabei!
Und das waren wir dann auch. Zwei Betreuer an zwei ganz unterschiedlichen Plätzen in der Halle, die gespannt waren wie Flitzebögen. Und da an diesem Novemberabend Geburtstag, Ostern und Weihnachten auf einen Tag fielen, musste man die Spannung natürlich irgendwie aushalten und verarbeiten. Und das funktionierte auf die Distanz natürlich am besten übers Handy. Vor allem, weil die Dinger an diesem Abend ja ausschließlich fürs Texten benutzt werden konnten.
Also ich habe einen mega Platz.
Aber Fotoverbot – Martin (19:01)
Das hatte natürlich auch seinen Vorteil. Denn als das Konzert pünktlich um 20:00 Uhr begann, hatte man nicht wie sonst so oft einen oder mehrere leuchtende Bildschirme vor der Nase. Es gab keine Ablenkungen vom Wesentlichen: der Musik. Außer natürlich das eigene Mitteilungsbedürfnis.
Bin froh, dass ich mich auf die Musik konzentrieren kann. – flohfish
Total! – Martin
Dieses beschränkte sich allerdings auf das Notwendigste, denn was die drei Stachelschweinbäume auf der Bühne präsentierten, das begeisterte das Publikum schon, bevor die Band überhaupt zu spielen angefangen hatte. Auszüge der Bandklassiker ‘Even Less’ und ‘Stupid Dream’ wurden als Intro vom Band abgespielt und machten das Publikum damit dermaßen heiß, dass es vor Begeisterung quasi explodierte, als die Herren Steven Wilson, Richard Barbieri und Gavin Harrison sowie ihre beiden neuen Mitstreiter Randy McStine und Nate Navarro endlich die Bühne betraten und mit ‘Blackest Eye’ den Song live zum Besten gaben, der Porcupine Tree und dem Album “In Absentia” um die Jahrtausendwende zum “Durchbruch” verholfen hatte. Im Anschluss hieran folgten drei Stücke, die allesamt vom Comeback-Album “Closure/Continuation” stammten: ‘Harridan’, ‘Of The New Day’ sowie ‘Rats Return’. Die stilistische Ähnlichkeit dieser Stücke zu den Alben der Post-Jahrtausendwende, die von manchem Fan beim Erscheinen des Albums als Ideenlosigkeit verunglimpft worden war, erwies sich im heutigen Live-Kontext als Glücksfall. Neues und Altes verbanden sich auf harmonische Weise, ohne dass es größere Brüche gegeben hätte. Begleitet von einer aufwendigen, aber keineswegs übertriebenen Licht- und Bühnenshow entstand so ein durchaus rundes Gesamtbild, das Glücksgefühle auslöste. Jedoch nicht uneingeschränkt.
Ich bin glücklich, aber nicht in Tränen. Wo sind die Höhen von Gavin? Metall hört man nicht! – flohfish
Tatsächlich war Gavin Harrison am heutigen Abend weniger präsent im Gesamtmix als man es bei ihm in den letzten Jahren von seinen Auftritten mit The Pineapple Thief gewohnt ist. Insbesondere die hohen, metallischen Klänge in seinem Spiel.
Wobei ich glaube, dass das bewusst so ist. Keys und Gesang sind großartig. Bass könnte deftiger sein. – flohfish
Also bei mir klingts gut ausgewogen. Etwas zu laut. Passt aber. – Martin
Lautstärke ist ok. – flohfish
Gavin könnte lauter sein. – Martin
Ja, ist der einzige Kritikpunkt. Bin froh, dass ich hier bin! – flohfish
Ob die Abmischung bewusst oder unbewusst so gewählt worden war, das konnte am Ende kaum beantwortet werden. Was die generelle Lautstärke des Abends anging, so schien Steven Wilson bzw. seine Soundleute dazugelernt zu haben, denn Gefahr, einen Gehörschaden zu erleiden wie seinerseits beim Essener Konzert der “Hand.Cannot.Erase”-Tour, lief man in Schwaben nicht.
Wie perfekt sich an diesem Abend alles gestaltete, das konnte man an mehreren Aspekten erkennen. Nicht nur, dass sich praktisch sämtliche Zuschauer an das Fotografier-Verbot hielten und Schwätzen unter Platznachbarn die Ausnahme waren. Auch die anwesenden Betreuer waren von der Musik so verzaubert, dass sie vergaßen, sich weiter über das Konzert auszutauschen. ‘Even Less’, ‘Drown With Me’, ‘The Sound of Muzak’ und ‘Last Chance to Evacuate Planet Earth Before It Is Recycled’. Wilson, Barbieri und Harrison reihten einen Bandklassiker an den anderen, sodass die ausgezehrten Fans gar nicht anders konnten als bedingungslos in der Musik aufzugehen. Ein Freudenfest für jeden alten Fan, aber insbesondere auch für alle jene Spätgeborenen, denen es bisher verwehrt geblieben war, Porcupine Tree einmal live erleben zu können. Dass Porcupine Tree sich dazu entschlossen hatten, die Bandphase vor “Stupid Dream” nicht zu berücksichtigen, war zwar bedauerlich, aber für den Großteil des Publikums nur ein kleiner Wermutstropfen, der das Erlebnis nicht wirklich schmälern konnte.
Erst ein neues Stück konnte die Redakteure dann wieder in Schreiblaune versetzen. Dies jedoch keineswegs aus Langeweile oder Desinteresse. Ganz im Gegenteil!
Jetzt kommen die Tränen doch langsam: ‘Chimeras Wreck’. – flohfish
Echt toll. – Martin
Und dann war Pause… und Zeit für ein erstes kleines Resümee:
Porcupine Tree haben Ende der Neunziger etwas gestartet, für das sie jetzt die Ernte einfahren. – flohfish
Ob diese These allgemeingültig auf den Progressive Rock angewendet werden kann, das sollte jeder für sich selbst beantworten. Was diesen November-Tag in Stuttgart anging, so entsprach diese Aussage jedenfalls zu 100 Prozent den Tatsachen. Porcupine Tree legten nach und eröffneten den zweiten Teil des Abends mit einem fulminanten “Fear Of The Blank Planet”. Und egal, was danach folgte, ob neue Stücke wie ‘Herd Culling’ oder das abschließende ‘Sleep Together’, jedes Stück löste gleichermaßen Begeisterung aus, denn das Gesamtpaket, das Porcupine Tree präsentierten, war perfekt abgestimmt.
Lediglich ‘Anesthetize’ bewegte unseren Martin noch einmal dazu, sein Telefon herauszunehmen.
Danach kommt ‘Anesthetize!’ – Martin
Yes!!! – flohfish
Was bei den Zugaben dann steckenblieb.
Denn das Dreierpaket aus ‘Collapse The Light Into Earth’, ‘Halo’ und dem abschließenden ‘Trains’ war für viele vielleicht die letzte Möglichkeit, dass sie diese Band noch einmal live sehen konnten.
Denn die Frage nach Closure oder Continuation scheint mittlerweile beantwortet zu sein. Eine Continuation Porcupine Trees wird es wohl nur noch für einige Open Air Shows im Sommer 2023 geben, darunter in Bonn, München und Schwetzingen. Danach ist wohl Closure angesagt.
Fotos: flohfish
Surftipps zu Porcupine Tree:
Homepage
Facebook
VKontakte
Instagram
Twitter
MySpace
Bandcamp
Soundcloud
YouTube Music
YouTube
Spotify
Apple Music
Amazon Music
Deezer
Tidal
Qobuz
Shazam
Last.fm
Discogs
MusicBrainz
ArtistInfo
Prog Archives
Wikipedia
–
Rezension: “Closure/Continuation” (2022)
Rezension: “Octane Twisted” (2013)
Rezension: “The Incident” (2009)
Rezension: “We Lost The Skyline” (2008)
Rezension: “Nil Recurring” (2007)
Rezension: “Fear Of A Blank Planet” (2007)
Rezension: “Deadwing” (2005)
Rezension: “In Absentia” (2002)
Rezension: “Stars Die: The Delerium Years 1991–1997” (2002)
Rezension: “Metanoia” (2001)
Rezension: “Lightbulb Sun” (2000)
Rezension: “Voyage 34: The Complete Trip” (2000)
Rezension: “Stupid Dream” (1999)
Rezension: “Coma Divine” (1997)
Interview: Excerpts Rrom An Interview With Steven Wilson (1997)
Rezension: “Signify” (1996)
Rezension: “Monoloop” (EP) (1994)
Weitere Surftips:
Veranstalter (Tour): FK Skorpio
Veranstalter (Lokal): Music Circus
Venue: Porsche Arena