Im Gespräch mit Chandelier-Sänger Martin Eden

Martin Eden, Sänger der Band Chandelier, überraschte kürzlich mit seinem ersten Solo-Album. Grund genug, sich mit ihm über “Sol”, Chandelier-Aktivitäten und seine literarische Ader zu unterhalten.

Überraschend erschien kürzlich das erste Solo-Album des Chandelier-Sängers Martin Eden. Eine noch größere Überraschung dürfte gewesen sein, was uns der Frontmann einer Neo-Prog Band hierauf präsentierte. Grund genug, beim Künstler nachzufragen. Dabei gab es gleich mehrere Themen.

Wie ist es zum Comeback von Chandelier gekommen und wie waren die Reaktionen darauf?
Für mich war Chandelier lange Zeit ein zu 100 Prozent abgeschlossenes Kapitel. Ich wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, die Band zu reaktivieren. Denn jedes Mal, wenn ich mir die alten CDs anhörte (was allerdings nur selten vorkam), dachte ich: “Tolle Kompositionen, aber schade, dass sie keinen richtigen Sänger hatten!”
Irgendwann kam Christoph, unser Bassist und vor allem ein sehr lieber Freund von mir, mit der Info, dass ein polnisches Label eine Neuauflage der drei CDs plant, inklusive jeweils einer Bonus-CD mit Outtakes, unveröffentlichtem Kram und so weiter. Das war OK für mich, solange ich als grundfaules Wesen dabei nicht irgendwie aktiv werden musste. Christoph, Udo (Gitarre) und Herry (Drums) haben dann sehr viel Zeit und Liebe in dieses Projekt investiert, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Dann kam plötzlich der Wunsch auf, ein, zwei Songs neu aufzunehmen – inklusive Gesang. Davon war ich aus oben genannten Gründen gar nicht begeistert, aber ich ließ mich breitschlagen – natürlich auch, weil mir klar war, dass ich meinen alten Freunden mit ihrem Engagement für dieses Projekt etwas schuldig war.
Die CDs sind dann erschienen und ich darf zugeben, dass ich auch froh war, dass unser “Erbe” jetzt wieder verfügbar war. Tja, die Reaktionen und Rezensionen zeigten dann, dass die kleine, aber feine Schar derer, die unsere Musik mochten, noch quicklebendig war. Plötzlich rief Christoph mich an und sagte, wir könnten beim NOTP auf der Loreley spielen, also auf dem Wacken der Progger. Wow! Tatsächlich gefiel mir die Idee! Denn erstens lässt sich das Rampenschwein-Gen vermutlich niemals ganz ausschalten und zweitens fand ich den Gedanken herrlich verrückt, dass Chandelier über 20 Jahre nach Auflösung das mit Abstand größte Konzert geben sollte.

Was hat euch der Auftritt beim Night of the Prog gebracht?
Tatsächlich war es einer der schönsten Tage meines Lebens! Wir sind mit so viel Freude, Enthusiasmus und Liebe empfangen worden, dass es uns schier umgehauen hat! Die “alte Truppe” war wieder zusammen, bis auf Tobias, der sich nicht für den Auftritt erwärmen konnte. Zum Glück konnten wir kurzfristig Armin dafür gewinnen, an den Tasten einzuspringen. Inzwischen ist Arminius gar nicht mehr wegzudenken aus unserer kleinen Kombo. Nach dem Auftritt war eigentlich uns allen klar: Das gemeinsame Musizieren macht so viel Spaß. Wir machen weiter!
Interessanterweise stellte sich auch heraus, dass mein Stimmchen nicht etwa eingerostet, sondern eher gereift war. Ich habe sozusagen meinen Frieden gemacht mit meiner Stimme. Ich hatte ja zwischendurch praktisch mehr als 20 Jahre lang überhaupt nicht mehr gesungen – von einem winzigen Projekt namens Gandria einmal abgesehen. Trotzdem (oder gerade deswegen?) habe ich den Eindruck, jetzt mehr Variationsmöglichkeiten aus meinen Stimmbändern herausholen und emotional berührender singen zu können.

Ihr habt auch eine Tour zusammen mit t gemacht – wie lief diese kurze Tour?
Es war sehr schön, wieder auf der Bühne zu stehen. Da gerade wieder eine neue Corona-Welle durchs Land rauschte, kamen zwar weniger Zuschauer als erhofft, aber für die, die dabei waren, sind ein paar vergnügliche Stunden entstanden, denke ich.

Was sind die zukünftigen Pläne? Neues Album, neue Tour?
Gerade nehmen wir unser neues Album auf, das im Laufe des Jahres 2023 erscheinen soll. Wir sind alle sehr euphorisch! Ich denke, es wird unser Meisterstück werden. Lasst euch überraschen! Konzerte folgen dann auch. Stay tuned!

Bands, mit denen du unbedingt gerne mal zusammen auftreten möchtest?
Beatles, Big Big Train, Genesis, Wigwam, Tiger Moth Tales, It Bites, Cindy & Bert …

Kommen wir zum eigentlichen Anlass für dieses Interview – dein Soloalbum “Sol”
Hätte es das Soloalbum auch ohne das Chandelier-Comeback gegeben?
Eindeutig NEIN! Die Reunion hat mir das nötige Selbstvertrauen in meine musikalischen Fähigkeiten zurückgegeben.

Wann kam die erste Idee für ein Solowerk?
Per Zufall hatte ich mal etwas über moderne Midi-Controller und ihre mannigfaltigen Möglichkeiten gelesen. In der Corona-Zeit war der Bewegungsradius größtenteils auf die eigenen vier Wände beschränkt. Also habe ich mir für vergleichsweise kleines Geld ein Roli Lightpad sowie ein Joué Play gekauft. Es macht unglaublich viel Spaß, sich auf diesen kleinen Geräten, die eigentlich eher wie Kinderspielzeug aussehen, auszutoben. Ich begann erste Songs/Projekte aufzunehmen und dann lag der Gedanke, ein Soloalbum aufzunehmen, nicht mehr fern. Erst sollte es “Solo” heißen. Dann dachte ich, “Sol” klingt interessanter. Weniger ist manchmal mehr.

War schon recht früh klar, dass es kein Neo-Prog Werk wird, oder hat es sich einfach mit der Zeit so ergeben?
Ich habe mich einfach von der Inspiration leiten lassen. Fast alles auf “Sol” ist durch Improvisation entstanden. Ich hatte absolut keinen Plan, wohin die Reise gehen sollte. Das habe ich komplett meiner Muse überlassen, die gerne die Zügel in die Hand nimmt. Übrigens werden auf dem neuen Chandelier-Album auch einige Kompositionen dabei sein, die ich im wahrsten Sinne des Wortes geträumt habe. Meine Muse küsst mich gerne.
Ein bestimmtes Genre zu bedienen, war also nicht mein Ziel. Die einzige Planung lag vielleicht darin, etwas musikalisch Ungewöhnliches zu erschaffen, das einen gewissen Anspruch erfüllt und gleichzeitig Spaß macht. Außerdem sollte es keine Nebenbei-Musik werden, sondern Zuhör-Musik. Nach meinem eigenen, unmaßgeblichen Geschmack, ist dieser Plan aufgegangen.

Wie ist denn die Resonanz auf das Album?
Nun, erwartungsgemäß gibt es Leute, die eher wenig mit “Sol” anfangen können. Andere hingegen sind begeistert. Das ist auch völlig okay so. Besonders gefreut hat mich das Lob meines Freundes Peter Machajdík, einem begnadeten Komponisten, der der Welt schon tolle Werke (u. a. mit Jon Anderson) geschenkt hat. Er war so nett, “Sol” als “genial” zu bezeichnen. Das tut natürlich unendlich gut!
Ein Label habe ich bislang nicht für “Sol” finden können. Also habe ich selber 100 Stück auf CD-R brennen lassen, die ich auf Bandcamp verscherbele. Dort ist das Album auch als Download zu haben. Da hab ich wohl mal wieder knapp am Grammy vorbei gearbeitet.

Ein paar Worte zur Covergestaltung?
Ich bin seit einiger Zeit gut befreundet mit dem Dresdner Steinmetz und Künstler Ingo Steinhäußer. Wir funken in vielen Bereichen auf derselben Wellenlänge. Seine Wohnung ist vollgepflastert mit eigenen Gemälden aus ganz unterschiedlichen Genres. Weitere Werke stehen/hängen irgendwo anders und sind von ihm als Fotos katalogisiert worden. Als ich das Foto von “Rauchende Giraffen surfen auf schmelzenden Eisbären” sah, war ich sofort elektrisiert. Dieses epochale Werk muss meines Erachtens keinen Vergleich mit Dalí oder ähnlichen Genies scheuen. Ich bat ihn, es für mich neu zu kreieren und auch “Martin Eden” und “Sol” zu ergänzen. Er tat es mit Herzblut; unentgeltlich! That’s what friends are for! Ich fühle mich sehr geehrt durch dieses wundervolle Cover! Das Original hängt bei mir im Wohnzimmer.

Wenn du Prog-Fans, die Chandelier mögen, aber dein Solo-Album gar nicht kennen, beschreiben müsstest, was sie zu erwarten haben, wie würdest du dies tun?
Während Prog ja von ständigen Tempi- und Rhythmuswechseln lebt, beherbergen meine Kompositionen auf “Sol” viele Loops, also sich stetig wiederholende Schleifen. Ich nenne sie trotzdem “Prog-Loops”, weil sie vom Sound und vom Feeling her sehr gut in die Prog-Welt passen. Hinzu kommen verzerrte Klänge, bei denen ich mich an Granden wie Neil Young oder Robert Fripp orientiert habe. Also gitarrenähnliche Klänge in improvisierten Soli, die oft die Schmerzgrenze erreichen und sogar übertreten, die dafür aber einen hohen Genuss bieten, wenn man sich der Musik hingibt und in ihr aufgeht. Gelingt dies den geneigten Zuhörenden, können sie in eine aufwühlende, ekstatische Welt abtauchen. Gewürzt ist alles mit unerwarteten und ungewöhnlichen Soundstrukturen, die hier und da ein leichtes Avantgarde-Lüftchen entstehen lassen.

War relativ schnell klar, dass es weniger Gesang, aber dafür vielmehr Soundtüfteleien geben würde?
Das hat sich einfach so entwickelt. Ich sehe mich in erster Linie als Komponist und erst danach als Sänger. Von daher war es mir prinzipiell egal, welchen prozentualen Anteil die Gesangspartien einnehmen würden. Aber klar, ich verstehe die Verwunderung, wenn auf einem Solo-Album eines Sängers kaum Gesang vorkommt. Keine Sorge, auf dem neuen Chandelier-Album wird die Gesangsdichte deutlich höher sein.

Wieso sind die Titel der Stücke auf “Sol” in unterschiedlichen Sprachen zu finden?
Ich bin überzeugter Europäer. Punkt. Also fühle ich mich auch in unterschiedlichen europäischen Sprachen mehr oder weniger heimisch. Mit einem französischen und einem niederländischen Titel wollte ich natürlich auch einen lieben Gruß an die Nachbarn senden.

Könntest du dir auch ein MartinEden-Album im Singer/Songwriter-Format vorstellen?
Ja, sehr gut sogar. Ich komme ja ursprünglich aus der Singer/Songwriter-Ecke. Paul Simon, Cat Stevens, Klaus Hoffmann, André Heller, Jacques Brel etc. sind nach wie vor Götter für mich. In jungen Jahren habe ich viele Songs geschrieben und dieses Handwerk wohl auch nicht verlernt.

Mal ein paar Allgemeinplätze.
Was sind für dich die besten Alben des letzten Jahres gewesen? Welche Bands/Künstler können dich aktuell begeistern?
Ich kann mir immer schlecht merken, in welchem Kalenderjahr welches Album erschienen ist, deswegen nenne ich einfach mal ein paar Namen von Bands, die ich in den letzten Jahren für mich entdeckt habe:
Solstafir, Katatonia, Spitting Ibex, Afenginn, Meszecsinka… Ansonsten bleibt natürlich die Verneigung vor epochalen Acts wie: Beatles, Neil Young, Rolling Stones, Janis Joplin, Amy Winehouse sowie selbstverständlich vielen Heroen aus dem Prog-Umfeld wie Big Big Train, Mystery und so weiter.

Wie siehst du die Entwicklung in Sachen Live-Events, die Schräglage zwischen ultra-teuren Events der großen Stars und die vielen Probleme für die kleinen Bands?
Ich denke, dies wird sich eher noch verschärfen als verbessern. Man kann unterhalb der Superstars-Ebene momentan kaum noch genügend Geld als Musiker*in einspielen, um davon leben zu können. Das Problem entstand spätestens mit den Streaming-Anbietern und hat sich im Live-Bereich durch Corona natürlich sehr verstärkt. Diese Entwicklung wird sich nicht zurückdrehen lassen.

Abschließend müssen wir natürlich auch noch über deinen Pimmel sprechen.
Wie kam es dazu, dass du dich mal in einem ganz anderen Genre betätigt hast? Immer noch zufrieden mit der Wahl des Namens?
Ich hatte einfach Lust, mal ein Buch zu schreiben. Irgendwann habe ich dann mal den inneren Schweinehund besiegt und mich ans Werk gemacht. Der Titel “Commander Pimmel” ist natürlich nach wie vor goldrichtig! Wie die geneigte Leserschaft schnell gemerkt hat, ist es ja nur der Titel, der so trashy rüberkommt. Im seinem Inneren ist es ein sehr feinfühliges Werk über sprichwörtlich Gott und die Welt, die Unerklärlichkeit des Lebens auf dieser sowie die vielen ungelösten Rätsel, die jede Kreatur mit sich führt. Es ist humorvoll geschrieben, weil der Humor genau wie die Musik ein Ventil ist, mit diesem ganzen Schlammassel irgendwie klar zu kommen. Der Titel soll freilich auch ein augenzwinkerndes Gegengewicht bieten zur Sexualitätsverteufelung, die sich in unserer völlig verklemmten Gesellschaft breit gemacht hat. Alles, was die Hippies an inbrünstiger Lockerheit und lebensbejahender Sinnesfreude eingeführt hatten, ist wieder degeneriert. Der Wächterrat der iranischen Revolutionsgarden könnte glücklicher gar nicht sein. Wen wundert es, dass selbst Kriege wieder gesellschaftsfähig geworden sind?!

Du hattest mal Lesungen angesprochen – ist es dazu gekommen?
Die aufgrund starken Schneetreibens abgesagte Lesung in Reichenbach hat einen neuen Termin bekommen. Am Samstag, den 25. März 2023 werde ich im legendären Bergkeller aus meinem Pimmel vortragen und ein paar Lieder zur Klampfe vortragen. Auch die Welt-Uraufführung eines neuen Chandelier-Songs wird dabei sein. Der Eintritt ist übrigens frei!

Ich fühlte mich ausgezeichnet unterhalten, daher auch meine Frage für potenzielle zukünftige Leser: Wo kann man das Werk beziehen?
Augenblicklich nur als Print-on-demand bei Amazon. Aber bei Konzerten/Lesungen habe ich natürlich auch ein paar Exemplare im Gepäck.

Vielen Dank, lieber Martin!

Abbildungen: Martin Eden

Diskografie:
“Sol” (2022)

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