20 Jahre sind vergangen, seit Sigur Rós mit “()” ihr drittes Studio-Album veröffentlicht haben. Eine Aufnahme, mit der sie nicht nur einen würdigen Nachfolger für “Ágætis byrjun” präsentierten, dem Album, mit dem die Band aus Reykjavik 1999 ihren Durchbruch gefeiert hatte. Sondern mit dem sie nach Meinung vieler Fans und Kritiker dieses sogar noch übertrumpfen konnte. Neun Jahre nach ihrem letzten regulären Album, dem 2013er “Kveikur”, sind Sigur Rós nun endlich wieder aus der Versenkung aufgetaucht, um u.a. das Jubiläum des 2002er Post’n’Art Rock Klassikers gebührend zu feiern. Auch wieder mit dabei: Keyboarder und Multi-Instrumentalist Kjartan Sveinsson, der 1998 zu Sigur Rós gestoßen war und die Band Ende 2012 verlassen hatte.
Sigur Rós
Wie recht viele Bands in den letzten Jahren teilten auch die Isländer ihr Set auf dieser Konzertreise in zwei Teile auf, die von einer rund zwanzigminütigen Pause unterbrochen wurden. Der Fokus der ersten Auftrittshälfte lag dabei auf den frühen Jahren der Nordwesteuropäer, also auf den schon erwähnten Alben Nummer zwei und drei. Stücke von “Von” hingegen, dem ’97er Debüt, auf dem die Gründungsmitglieder Jón Þór Birgisson und Georg Hólm noch von Schlagzeuger Ágúst Ævar Gunnarsson unterstützt worden waren, fanden nicht nur heute Abend, sondern bis auf eine einzige Ausnahme (beim Auftritt in Brooklyn) nämlich auf der gesamten bisherigen Tournee keine Berücksichtigung. Es war also eine Zeitreise in die Periode um die Jahrtausendwende.
Doch verglichen mit einem Konzert, wie es Sigur Rós beispielsweise 2001 in der Sachsenhausener Dreikönigskirche gespielt hatten, hätte der Kontrast zum heutigen Abend nicht größer sein können. Denn während damals neben der Musik die Bandmitglieder im Mittelpunkt des Geschehens gestanden hatten, wurde der Fokus des Publikums heute auf die Projektionen auf dem riesigen Backdrop im Hintergrund der Bühne gerichtet. Intim und minimalistisch war damals. Heute hingegen bestimmten eindrucksvolle Visuals die optische Wahrnehmung. Interessanterweise war die Wirkung der Lightshow jedoch eine ganz ähnliche wie damals. Denn sowohl das sakrale Ambiente des Frankfurter Gotteshauses als auch die Videokunst, die man in Esch bestaunen konnte, verstärkten das Erleben der musikalischen Wunderwelten aus Island.
Akustische Elysien, die auch (mehr als) zwanzig Jahre nach ihrem Entstehen nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren haben. Wie auch, denn schon zur Zeit ihrer Veröffentlichung galten “Ágætis byrjun” sowie “()” als zeitlose Musik. Den Auftakt des Abends bildeten dabei die ursprünglich allesamt unbetitelten ersten drei Stücke des eigentlich genauso unbetitelten Drittlings mit den Klammersymbolen als Cover-Artwork. Musik, die das Publikum schon in den ersten Momenten in mentale Gefangenschaft nahm. Ein gelungenes Comeback nach so vielen Jahren Bühnenabstinenz. Dessen Sogkraft noch eine Verstärkung erfuhr, als im Anschluss die so charakteristischen Klänge von “Svefn-g-englar” das Auditorium der Rockhal erfüllten. Musik so traurig, zerbrechlich und wunderschön, man könnte annehmen, sie stamme aus einem Paralleluniversum oder sei von Engeln erschaffen worden. So war es dann vielleicht auch ganz passend, dass man Schwierigkeiten hatte, die vier Musiker im dezenten Licht der Bühne wahrnehmen zu können. Denn je mehr Jahre in die Lande streichen, desto unglaubhafter erscheint es, dass die allseits für Gänsehaut sorgende Stimme aus dem Munde von Jónsi erschallt. Dass Kjartan Sveinsson zurück in der Band ist, konnte man dann spätestens bei ‘Rafmagnið búið’ nicht mehr verleugnen. Einem der fragilsten Werke von Sigur Rós, das heute Abend, genau wie schon auf Single, das Intro zum Bandklassiker ‘Ný Batterí’ bildete. Ein Stück, nach dem man sich auch heute wieder fragen musste, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, eine E-Gitarre ohne Cellobogen zu spielen. Fanservice per Excellence!
Doch auch damit musste irgendwann Schluss sein, denn Jónsi, Georg, Kjartan sowie ihr Tour-Drummer Ólafur Björn Ólafsson befanden sich nicht auf Abschiedstour. So präsentierte das Quartett mit ‘Gold 2’ dann auch einen Vorgeschmack auf das kommende Album, das, sofern dieses Stück repräsentativ dafür ist, eine Abkehr vom “Kveikur”-Sound und eine Rückbesinnung auf die Zeiten von “Ágætis byrjun” zu werden scheint. Denn stilistisch schmiegte sich der Neuling sehr eng an die zuvor gespielten Lieder des Abends. Es leitete den Übergang zum Abschluss des ersten Teils des Abends ein, welcher wiederum von zwei der finstersten Stücke der Bandgeschichte bestimmt wurde: ‘Untitled #7’ (a.k.a. ‘Dauðalagið’ – zu deutsch.: ‘Der Todes-Song’, wie das Lied mittlerweile genannt wird), sowie ‘Smásfika’, ein weniger bekanntes Kleinod, welches ursprünglich als B-Seite von “Untitled #1” (a.k.a. ‘Vaka’) erschienen war.
Den zweiten Teil des Abends bestimmten im Folgenden die Stücke des 2005er Studio-Albums “Takk…”. Eine Platte, deren Klangbild von der Kooperation mit dem Streicher-Quartett Amiina gekennzeichnet ist. Ein Ensemble, das Sigur Rós in früheren Jahren regelmäßig auf Touren begleitet hatte. Schade, dass dies im Jahre 2022 nicht wiederholt worden ist. Wobei, wenn man mal ehrlich ist… schon bei ‘Glósóli’ konnte man feststellen, dass man im Sound der Isländer eigentlich gar nichts vermisste. Die Post-Rock-typische Wall Of Sound, die für dieses Stück so prägend ist, konnte das Quartett auch ganz ohne Hilfe von Begleitmusikern aufzauen. Unterbrochen nur vom sehr emotionalen ‘Untitled #6’ (a.k.a. ‘E-Bow’), ließen Jónsi und seine Mitstreiter drei weitere Stücke vom vierten Studio-Album folgen, verzichteten dabei aber auf ihren wohl größten Radio-Hit ‘Hoppípolla’. ‘Sæglópur’, ‘Gong’ und ‘Andvari’ wurden dafür gefühlt auf doppelte Länge der Originale ausgedehnt und bewirkten hierdurch nicht etwa Langeweile, sondern das genaue Gegenteil.
Der nun folgende Ausflug in die jüngere Geschichte von Sigur Rós – sprich ihre letzten 14 Jahre – gestaltete sich dann sogar noch kürzer als man hätte annehmen können. Denn obwohl in dieser Zeit immerhin drei Alben entstanden waren, wurden “Með suð í eyrum við spilum endalaust” (2008) in Form von ‘Festival’ und “Kveikur” (2013) in Form seines Titelsongs mit jeweils nur mit einem Stück bedacht. Und das 2012er “Valtari” hingegen sogar gar nicht berücksichtigt. Und obwohl v.a. “Kveikur” einige Fans aufgrund seiner etwas stärkeren Ausrichtung an Alternative Rock und Modern Post Rock vergrault hatte, war das Extra an Energie am Ende des Abends eine willkommene Abwechslung. Eine Intensität, die ihren Höhepunkt erreichte, als der Abend in einem ausladenden ‘Untitled #8’ gipfelte. Ein Stück, das völlig zu unrecht unter dem alternativen Titel ‘Popplagið’ fungiert. Denn handelt es sich hier, wie der Name vermuten lässt, nicht um Pop-Musik, sondern wahrscheinlich um das härteste Stück in der Diskografie der Isländer. Was hätte man sich mehr wünschen können, denn das Crescendo in welches ‘Popplagið’ gipfelte, hätte auch als krönender Abschluss eines Post Metal-Festivals funktioniert.
Fotos: flohfish
Surftipps zu Sigur Rós:
Homepage
Facebook
VK
Instagram
Twitter
TikTok
MySpace
Bandcamp
Soundcloud
Youtube Music
YouTube
Spotify
Apple Music
Amazon Music Unlimited
Deezer
Tidal
Qobuz
Shazam
last.fm
Discogs
MusicBrainz
ArtistInfo
Prog Archives
Wikipedia
Rezension: “Odin’s Raven Music” (2002/2020)
Rezension: “Ágætis byrjun” (20th Anniversary Edition) (1999/2019)
Rezension: “Kveikur” (2013)
Rezension: “Valtari” (2012)
Rezension: “Inní” (2011)
Rezension: “Með suð í eyrum við spilum endalaust” (2008)
Rezension: “Hvarf/Heim” (2007)
Rezension: “Takk…” (2005)
Rezension: “()” (2002)
Rezension: Rezension: “Ágætis byrjun”(1999/2000)
Weitere Surftips:
Veranstalter: A-Promotions
Venue: Rockhal