Wahrscheinlich gibt es nur wenige deutsche Bands, die seit dem Ausbruch von Corona so oft auf Tour waren wie The Hirsch Effekt. Was sich auch darin spiegelt, dass dieser Artikel bereits unser dritter Konzertbericht über die Hirsche binnen der letzten 24 Monate ist. Doch so schmackhaft wie in diesem Herbst waren die vergangenen Touren der Band nicht gewesen. Denn mit A kew’s tag konnte eine der vielversprechendsten jungen Bands der deutschen Progressive-Rock-Szene als Support gewonnen werden.
A kew’s tag
So war die Vorfreude beim Berichterstatter auf den Auftritt der Newcomer dann auch größer als die auf den Headliner. Denn das 2021 veröffentlichte Drittwerk “Hephioz” der aus verschiedenen deutschen Landen stammenden A kew’s tag, war nicht nur ein überzeugendes Konzeptalbum gewesen. Vor allem der Ansatz, als Progressive-Rock-Band lediglich rein akustische Instrumente zu nutzen, verlieh dem Auftritt der Band eine besondere Spannung.
Verstärkt durch den Bassisten Vincent van Thall, betrat das aus Frontmann Julian Helms, dem Gitarristen Johannes Weik sowie Florian Werk hinter der Batterie bestehende Trio pünktlich um halb acht die Bühne des alten Kesselhauses des früheren Wiesbadener Schlachthofes. Und was da bereits mit dem Opener ‘…T.R.U.T.H.’ über einen hereinbrach, das hatte hinsichtlich Energie-Level, Wucht und Durchschlagskraft viel mehr mit modernem elektrischem Progressive Metal gemeinsam als mit akustischer Musik. Und das, obwohl sowohl das filigrane Spiel von Johannes Weik auf seiner Akustikgitarre als auch der gefühlvolle Gesang von Julian Helms oft reichlich fragil klangen. Doch eine tighte Rhythmusfraktion, harte Anschläge auf der Akustischen und immer wieder eingestreute Growls ließem einen nie allzulange ins Schwelgen oder Staunen abdriften.
Die Stücke, die das Quartett an diesem Abend spielte, stammten ausschließlich vom letztjährigen “Hephioz” und obwohl auf diesem Werk eine Vielzahl heute nicht präsenter Gastmusiker in Form von Streichern und Bläsern präsent war und aus zeitlichen Gründen nicht alle Stücke gespielt werden konnten, fehlte es der Live-Aufführung der Stücke an nichts. Ganz im Gegenteil, A kew’s tag fesselten das Publikum vom ersten Moment an durch ihre mitreißenden Stücke und ihre intensive Darbietung. Akustische Musik zum Headbangen, aber auch immer wieder zum Laben an wundervollen Melodien. Ein großartiger Auftritt, durch welchen die Musiker einige neue Fans für sich gewonnen haben dürfte und der schon alleine die Anreise nach Wiesbaden gerechtfertig hat.
The Hirsch Effekt
Rückblickend lässt sich dies jedoch auch über die Hirsche sagen, denn gerade verglichen mit den beiden von uns beigewohnten Auftritten in Kaiserslautern (bestuhlt) und Köln (Open Air), war der Auftritt im hessischen Wiesbaden der der überzeugendste. Manchmal ist eine talentierte Band als Vorband dann vielleicht doch nicht die schlechteste Wahl. Denn sie kann nicht nur als Anheizer fürs Publikum, sondern auch als Brandbeschleuniger für den Headliner dienen. Und so waren Nils Wittrock, Ilja Lappin und Moritz Schmidt heute Abend “on fire” – noch mehr, als man es ohnehin von ihnen gewohnt ist. Was nicht nur daran deutlich wurde, dass die Musiker, allen voran Schlagzeuger Mo, schon nach zwei Stücken triefend Nass vor Schweiß waren.
Aber es lag nicht nur an der geballten Energie-Ansammlung, die sich auf der Bühne immer wieder brachial entlud, sondern vor allem auch an der ausgewogenen Songauswahl, die alle Alben, bis auf das 2010er Debüt “Holon : Hiberno” berücksichtigte. Denn dadurch, dass The Hirsch Effekt mit ihrer aktuellen Tour eine EP, nämlich “Solitaer” (2022) promoteten, auf der nur drei echte neue Stücke zu finden sind, ließ der Abend viel Platz, um mal wieder in der eigenen Kramkiste zu wühlen. Mit teils bemerkenswerten Ergebnissen, denn schon die ersten drei Stücke ‘Anamnesis’, ‘Liberent’und ‘Absenz’, die in dieser Reihenfolge auch den Auftakt von “Holon : Anamnesis” bildeten, hatte man in dieser Form schon seit Jahren nicht mehr gehört. Ein Rückgriff auf die Zeiten, als klassische Instrumente noch zum Standardrepertoire von HTF-Platten gehörten und auf die nicht erst im Zuge von Neuvertonungen à la “Gregær” (2021) zurückgegriffen wurde. Und auch das nächste Dreierpack, bestehend aus ‘Xenophotopia’, ‘Berceuse’ und ‘Tardigrada’ repräsentierte ein und das gleiche Album (Rezension “Eskapist” (2017)), so dass sie wie aus einem Guss erschienen.
Es folgten mit ‘Domstol’ und ‘Kris’ zwei Stücke vom gesellschaftskritischen “Kollaps” (2020), die augrund ihres geringen Alters bisher nur selten live zu hören waren, bevor es dann zur größten Überraschung des Tages kam: So war das von “Holon : Agnosie” stammende ‘Tombeau’ nicht nur auf keiner ihrer bisherigen Touren live gespielt worden, The Hirsch Effekt verabschiedeten sich auch von ihren Stamm-Instrumenten und griffen stattdessen zu Piano (Nils), Cello (Ilja), bzw. ins Leere, denn Moritz überließ seinen Mitstreitern für diese musikalische Zäsur alleine die Bühne. Eine willkommene Verschnaufpause und ein Moment, der in aller Deutlichkeit vor Augen führte, welch doch schöne Musik unter den vielen Layern Artcore-Wahnsinns zu finden sein kann.
Doch es war nur die Ruhe vor dem Sturm, der sich nun ankündigte und auf welchen The Hirsch Effekt mit dem verspielt-progressiven ‘Athesie’ im dichter ansteuerten: drei der vier Stücke ihrer in großen Teilen ultrabrutalen jüngsten EP. Und so gingen The Hirsch Effekt bei
‘Palingenesis’, ‘Nares’ und der “Solitär”-Version von ‘Gregær’ nicht nur ab wie Luzie, auch das Publikum des gut gefüllten Kesselhauses wusste die Performance der neuen Stücke ausgiebig abzufeiern. Was übrigens auch auf die anschließenden Stücke ‘Irrat’ und ‘Ira’ zutraf, bevor die nächste Zäsur anstand und die Hannoveraner mit “Lysisos” ein fast viertelstündigen Prog-Epos in Rammstein-Ästhetik präsentierten. Ein würdiger Abschluss eines bemerkenswerten Abends.
Wäre da nicht noch die Zugabe ‘Inukshuk’ gewesen. Eines der zugänglichstren Stücke des Trios und aufgrund seines grandiosen Refrains auch heute Abend ein Fan-Liebling. Ein Stück, das das Publikum noch einmal in Ekstase versetzte. Und so schnell auch nicht wieder aus dieser hervorließ. Denn die Worte ‘Stein auf Stein’ dürften nicht nur beim Autoren über Stunden nachgeklungen haben.
Fotos: Chris Bretz
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Rezension: “Solitaer” (2022)
Konzertbericht: 19.07.21, Köln, Freideck
Rezension “Gregær” (2021)
Rezension “Kollaps” (2020)
Konzertbericht: 10.10.20, Kaiserslautern, Kammgarn
Rezension “Eskapist” (2017)
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Rezension: “Hephioz” (2021)
Festivalbericht: 16.07.17, Sankt Goarshausen, Loreley Freilichtbühne, Night Of the Prog 2017
Weitere Surftips:
Veranstalter: Kulturzentrum Schlachthof Wiesbaden e.V.
Venue: Kesselhaus