(42:26, digital, CD, LP, Circular Waves Records, 2022)
Sie tun es einfach nicht unter einem Konzeptalbum. Nach den jeweils einem gemeinsamen Storyboard folgenden Longplayern “Vasilisa” (2015) und dem Über-Werk “Asylum” (2020) reisen wir mit Chaosboys-Airlines und ihrer stark modifizierten Bong 747 “Chaosforce 2222” nunmehr in eine nicht allzu ferne, jedoch umso erstaunlichere Zukunft. Ihren Weg bis auf diese Rollbahn hatte Kollege Floh anlässlich der ebenfalls in diesem Jahr erschienen EP “Boxes” bereits so wunderbar beschrieben, dass wir uns das hier kneifen können.
Im Gegensatz zur sonst weit verbreiteten Schwarzmalerei bezüglich des Kommenden erleben wir hier das rosarote Gegenteil: “Die Songs betrachten alles aus der Sicht eines Menschen, den es in das Jahr 2222 verschlägt. Er ist überrascht, wie viele heute noch unlösbar erscheinende Probleme mittlerweile überwunden sind (…) vielleicht genau die mutige Vision, die wir als Gemeinschaft in Anbetracht der aktuell schwierigen Zeiten dringend benötigen, um konstruktiv nach vorne schauen zu können?”
Texter/Sänger/Gitarrist Jan Listing elaboriert das noch:
Wir glauben an das Gute im Menschen. Das war der Ausgangspunkt dieser Geschichte. Weltuntergangsszenarien gibt es schon genügend. Außerdem sollte unsere Freude an Musik auch inhaltlich rüberkommen. Um psychisch gesund und handlungsfähig zu bleiben, braucht es den Glauben daran, dass auch schwierige Konflikte lösbar sein werden. Auf der rein technischen Seite hat sich die Menschheit in Form von genialen Erfindungen schon oft selbst übertroffen. Genau so fest glaube ich daran, dass wir es auch was unsere Werte betrifft schaffen werden, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen, und damit ein neues Zeitalter einzuläuten, in dem ein friedliches Miteinander möglich sein wird.
Der Soundtrack zu dieser Reise ins Morgen-Land setzt natürlich weiter auf den bewährten, stets verfeinerten Progressive Metalcore des Quartetts. Wobei einerseits auf “2222” die progressiven Stilmittel deutlich zugunsten der metallischen Anteile zurückgefahren wurden. Andererseits verzichtet das aktuelle Album bis auf den durch ‘New Age’ gebildeten Rahmen auf die schon fast Symphonien-hafte Wiederkehr und Durchführung von Themen, die “Asylum” so einzigartig gemacht hatte. Auf der Habenseite wird das neue Material durch musikalische Gäste nicht unerheblich aufgewertet.
Der Ouvertüre ‘New Age’ mit ihrem nahöstlichen Charme gelingt es binnen Sekunden, das Gefühl einer überstandenen Reise und das erstaunte Um-sich-her-Blicken des Angekommenen zu vermitteln. Gleichzeitig macht sie erneut mit den Chaosbay-Trademarks vertraut: Hämmernde Metal-Rhythmik und aggressive Growls gehen sämig in ultramelodische, hymnische Passagen mit klarem Gesang über.
Schon beim beschwingten, ausgesprochen mitsingbaren ‘Passenger’ dürfen wir mit Jake Oni von der kanadischen Progressive Metal-Band ONI einen prominenten Reisegefährten begrüßen.
Für die nur eine gute Minute währende Entdeckung des ‘Future Of Death’ müssen selbst junge Metalcore-Hengste das Tempo deutlich reduzieren. Umso dynamischer geht es mit ‘2 Billion’ weiter – und der Bevölkerungsentwicklung.
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Eines der in der Zukunft gelösten Probleme scheinen mit kriegerischer Gewalt ausgetragene Konflikte zu sei. So wirkt es beglückenderweise jedenfalls, wenn man künftig ‘What Is War’ fragen darf. Hier ist Mirza Radonjica von der dänischen Band Siamese mit von der friedvollen Partie.
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Wer sich nun endgültig verwundert die Augen reibt, dem geht es ganz wie unserem Protagonisten, der jetzt Zweifel anmeldet: ‘All This Beauty Can’t Be Real’ – aufgrund des strahlenden Refrains eines der eingängigsten Stücke des ohnehin – trotz allem intellektuellen Gehalt – ausgesprochen geschmeidig konsumierbaren Albums.
Eine nahezu radiotaugliche Ballade ist das sogar mit (Kunst-)Streichern versehene ‘How Long’, worauf – natürlich – mit ‘Avalon’ ein böser Midtempo-Klopfer folgt.
Der (mit ‘All This Beauty’) weitere persönliche Favorit ‘Eternal Eyes’ ist bemerkenswerterweise gleichzeitig das brutalste und wohl auch melodischste Stück der Platte. Obwohl ‘Home’, Jans Duett mit Alexia Rodriguez von Eyes Set To Kill durchaus auch Anspruch auf den Melodie-Pokal erheben könnte.
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Die Band erläutert zum Stück:
Es stellt sich die Frage, ob ein ausgereifter Perfektionismus überhaupt ein Schlüssel zum Glück sein kann? Vielleicht macht er alles noch komplizierter und undurchsichtiger. Vielleicht ist die Suche nach einer besseren Version von heute so sehr Teil unserer DNA, dass sie einen nie endenden Status quo festschreibt?
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Also ist dieses Wolkenkuckucksheim womöglich doch Dystopia in Disguise? Dieses Album konfrontiert uns jedenfalls mit der Frage, wie viel positives Potenzial eigentlich – trotz allen bekannten Fehlentwicklungen – noch in der Menschheit stecken könnte. Und was dadurch vielleicht doch noch möglich wird. Schwere, aber sicher bedenkenswerte Frage. Die Frage nach dem Potenzial dieser noch so jungen deutschen Kapelle hingegen stellt sich schon lange nicht mehr.
Bewertung: 12/15 Punkten
Ein PS, nachdem Jan uns freundlicherweise die (lesenswerten!) Texte zum Album zur Verfügung gestellt hat, nach der triumphalen Release Show am 30.07.22 in Köln und nach einigen weiteren Hördurchgängen: Die Band macht auch auf “2222” sehr wohl weiter mit dem Verfahren, Textteile und die damit verbundenen musikalischen Themen kunstvoll über die ganze Laufzeit wieder aufzugreifen, wie das schon auf “Asylum” so begeisternd geschah. Beispiele dafür sind das durchlaufend wiederkehrende Leitmotiv “a new age, a new life” oder auch das “Todes-Motiv”: “but when an old dying tree has lost its power to grow…”
Line-up:
Jan Listing – Lead Vocals, Gitarre
Alexander Langner – Gitarre
Matthias Heising – Bass
Patrick Bernath – Drums
Gäste:
Jake Oni – Vocals
Mirza Radonjica – Vocals
Alexia Rodriguez Vocals
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ProgArchives
Konzertbericht: 01.10.21, Köln, MTC
Rezension “Asylum” (2020)
Konzertbericht: 16.01.20, Köln, Tsunami Club
Abbildungen via Sailor Entertainment: Chaosbay / Circular Wave
Live-Foto: JacquePhotography