IANAI – Sunir

IANAI - Sunir (Svart/Soulfood, 10.06.22)(1:11:17; Vinyl (2 LP), CD, Digital; Svart Records/Soulfood, 2022)
“Ofelaš” bzw. “Veiviseren”, in Deutschland besser bekannt als “Pathfinder – Die Rache des Fährtensuchers”, ist ein 1987 erschienener Abenteuerfilm des norwegischen Regisseurs Nils Gaup, der um das Jahr 1000 herum im hohen Norden Europas, irgendwo auf dem Gebiet der skandinavisch-karelischen Halbinsel spielt und ganz tief in die Legenden der lappländische Kultur eintauchte.
Komplett in samischer Sprache gehalten, konnte “Pathfinder” durch sein langsames Erzähltempo und seine grandiose Verbindung aus wunderschönen Naturaufnahmen, tiefgreifender Mystik und ethnischer Genauigkeit begeistern. Ein Streifen, der 1988 als bester fremdsprachiger Film für die Academy Awards nominiert wurde und noch heute seines Gleichen sucht.

Als vor wenigen Monaten auf einmal das erste Musikvideo zu IANAIs “Sunir” auftauchte, fühlte man sich unweigerlich an diesen 35 Jahre alten Film-Klassiker erinnert. Denn die Ästhetik des Videos zu ‘Savoj Icoil’ wirkt wie der vielversprechende Trailer zu einem zweiten Teil der nordischen Saga. Getoppt wurde die ausgezeichnete Cinematographie des Kurzfilms jedoch vom vermeindlichen dazugehörigen Score, denn dessen Musik erschien wie eine Kooperation zwischen Dead Can Dance und Sigur-Rós-Frontmann Jón Þór Birgisson: behutsam, mystisch, transzendierend und berührend.

Gespannt konnte man also sein, auf den 10. Juni 2022, den Tag, an dem “Sunir” das Licht der Welt erblickte. Erwartete uns hier etwa ein weiteres tiefgreifendes Meisterwerk im Geiste von “Within the Realm of a Dying Sun” und “Ágætis Byrjun”? Oder dann doch eher klebriger Ethno-Kitsch mit mystischem Pseudo-Überbau?

Die Antwort hierauf ist gar nicht so einfach, denn IANAIs “Sunir” hat etwas von beiden Elementen. Gottlob bezieht sich das Meisterliche an “Sunir” vornehmlich auf dessen Musik und insbesondere auf deren Wirkung. Triefend kitschig dagegen wird es, wenn man sich den Pressetext zum Album anschaut:

Mit Trevenial zu sprechen, der Einzelperson, der Multi-Instrumentalisten-Stimme von der anderen Seite dieses Schleiers, ist zu einem Geist zu sprechen, der den Schleier dieser Welt transzendiert und Grenzen jenseits von Zeit und Ort überschreitet. Aber Ihr werdet nicht mit Trevenial sprechen, sondern die Worte von IANAI hören. IANAI ist die Essenz der Musik, die Kultur durchdringen und beeinflussen wird, ohne an Grenzen oder Konventionen zu denken. IANAI ist ein Mythos im Entstehen.

Trevenial ist dabei der Künstlername des finnischen Sängers und Multi-Instrumentalisten, der sich nicht nur hinter den Namen IANAI verbirgt: Denn genau wie Sleep Tokens Vessel versteckt sich Trevenial nicht nur hinter einem Peudonym, sondern auch hinter Masken und Schleiern. Doch wo Vessel mit seinem Worship-Kult noch einigermaßen cool rüberkam, geht Trevenial komplett im hochtrabenden Esoterik-Kitsch unter:

Von einer Zeit vor der Zeit, bevor der Ozean Atlantis verschluckte und die Götter auf ihren Bergen saßen und die großen Alten frei und unbelastet umherstreiften, flüstert IANAI durch die Grenze der Legenden.

Worte, die in dieser Form nicht nötig gewesen wären und beim Hören des Albums einen leicht säuerlichen Beigeschmack hinterlassen. Denn die Musik, die auf “Sunir” zu finden ist, wäre ohne diesen mystischen Überbau wahrscheinlich noch stärker gewesen. Denn IANAI entfaltet seine Wirkung, auch ohne darüber überhaupt Worte zu verlieren. Bzw. ohne dass man die in den meisten von uns nbekannter Sprache vorgetragenen Texte Trevenials verstehen müsste.

Und so ist es zumindest konsequent, dass man darüber im Unklaren gelassen wird, wer wirklich alles an “Sunir” beteiligt war, denn ein Satz wie der Folgende ist eher vage als informativ:

IANAI wird von einer Kohorte von Musikern aus der Weltmusikszene und Klassik begleitet, Orchester, aber auch Menschen aus modernen Bands wie Massive Attack (UK), Client (UK), HIM (Finnland), Sisters Of Mercy (Großbritannien), Theodor Bastard (Russland), Lord Of The Lost (Deutschland), Swallow The Sun (Finnland), Souvenir Season (Deutschland) und The Rasmus (Finnland).

Dies ist ein Album, das wie so viele andere nicht in Genre-Schubladen passt. Vor allem deswegen nicht, da es seine vielfältigen Einflüsse aus der Weltmusik der verschiedenen Kontinente bezieht: Skandinavien, Afrika, Asien, Mittlerer Osten und Südamerika. Es ist Folklore ohne dazugehöriges Volk. Filmmusik, größtenteils ohne dazugehörige Bilder. Und Post Rock ohne die so genretypischen Crescendi.
Ein Album, das aufgrund seiner zeitlupenähnlichen Spannungskurven so sehr aus der Zeit gefallen ist, dass es für die heutige Zeit kaum passender sein könnte. Denn “Sunir” wirkt entspannend, entschleunigend und beruhigend. Gerade wegen seiner ungewöhnlichen Dynamik. Es ist eine Platte, für die man sich Zeit nehmen muss, denn “Sunir” entfaltet seine volle Schönheit nur äußerst langsam. Ist die Musik jedoch erst einmal ins Innerste vorgedrungen, so wird sie dort wohl auch noch lange verweilen.
Bewertung: 12/15 Punkten

Sunir by IANAI

IANAI - Sunir (Svart/Soulfood, 10.06.22)
Credit: Pia Rautio

Trevenial

Diskografie (Studioalben):
“Sunir” (2022)

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Abbildungen: Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von Gordeon Music zur Verfügung gestellt.