Steve Hackett, 10.03.22, Frankfurt am Main, Jahrhunderthalle

Was bleibt von einer Band, wenn sie aufhört zu existieren?

Ihre Tonträger, offensichtlich, und natürlich auch die wundervollen Erinnerungen im Gedächtnis der Fans. Doch wie sieht es um zukünftige Live-Aufführungen der Musik dieser Gruppen aus? In welcher Form werden sie fortgesetzt werden? Ein Blick in die Musikgeschichte hilft da wohl kaum, da klassische Musiker heute nur noch als Komponisten bekannt sind. Tonaufnahmen von historischen Künstlern existieren aufgrund der damals noch nicht vorhandenen Aufnahmetechnik nicht. Und so gibt es leider nur Wortberichte darüber, wie Virtuosen wie Ludwig van Beethoven oder Wolfgang Amadeus Mozart geklungen haben müssen. Dies eröffnet den Orchestern von heute alle Freiheiten bei der Interpretation deren Stücke. Denn ein direkter klanglicher Vergleich mit der Handschrift eines klassischen Musikers anhand einer Tonaufnahme wird niemals möglich sein.

Dies ist der erste Teil eines Doppelberichtes über die Auftritte von Steve Hackett und Genesis im März 2022.
Den zweiten Teil mit dem Bericht aus Köln findet ihr hier: Genesis, 13.03.22, Köln, Lanxess Arena

Ganz anders sieht es da bei Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts aus, denn deren Aufnahmen sind nicht nur frei verfügbar. Oft hat sich der Klang eines Künstlers auch in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingebrannt. Das Solo von ‘Wish You Were Here’ klingt beispielsweise einfach nur dann “original” nach Pink Floyd, wenn es von David Gilmour gespielt wird. Denn egal wie versiert ein Künstler das Spiel von Gilmour auch nachzuahmen versucht, es würde immer lediglich eine ausgezeichnete Interpretation bleiben. Knopfler würde bei einem solchen Versuch immer nach Mark Knopfler klingen und Clapton immer nach Eric Clapton. Selbst stilistisch ähnliche Gitarristen wie Marillions Steve Rothery oder Camels Andy Latimer kämen klanglich wohl niemals an Gilmours Original heran. Dies gilt übrigens ebenso für Pink Floyd selbst, denn die alternative Version des Klassikers mit Stéphane Grappelli an der Violine, klingt zwar wundervoll, aber gleichzeitig auch sehr befremdlich.

Was wird zukünftig also bleiben?
Hologramm-Konzerte wie bei ABBA? Cover-Bands wie The Musical Box, die das Vorbild mit Original-Kostümen, -Instrumenten (ja sogar – soweit überhaupt noch rekonstruierbar – Original-Lichtregie und Projektionen, d. Schlussred.) eins zu eins nachzuahmen versuchen? Gruppen wie Yes, die auch dann noch weiter existieren, auch wenn kein Gründungsmitglied mehr in ihren eigenen Reihen weilt? Musical-Versionen wie bei The Beatles? Oder vielleicht doch ganz freie Interpretationen von irgendwelchen Symphonie-Orchestern? Wo auch immer der Weg hinführen wird, die Originale zu ihren Glanzzeiten werden wohl unerreicht bleiben. Und so sollte man sich glücklich schätzen, dass noch immer Künstler unter uns weilen, die Stücke aus den Glanztagen IHRER Musiker-Geschichte live aufführen, auch wenn es die betreffenden Bands in ihrer klassischen Formation nicht mehr gibt.

Natürlich war es absehbar gewesen, dass Genesis ein Shitstorm entgegenwehen würde, als sie verkündeten, nach 15 Jahren Pause wieder zurück auf die Bühnen der Welt klettern zu wollen. Wobei klettern eigentlich der falsche Begriff ist, wenn man sich den gesundheitlichen Zustand von Phil Collins anschaut. Besagter Herr Collins ist objektiv betrachtet nur noch ein Schatten seiner selbst: er ist aufgrund eines Rückenleidens auf einen Gehstock angewiesen und nicht mehr dazu in der Lage, einen Auftritt stehend zu bestreiten. Ganz zu schweigen davon, seinen Platz hinterm Schlagzeug einzunehmen und los zu trommeln. Dazu eine Stimme, die jenen von Fish und Jethro Tulls Ian Anderson der letzten Jahre in nichts nachsteht. Hinzu die Entscheidung, ein weiteres Mal ohne Steve Hackett anzutreten. Peter Gabriel stand wohl gar nicht erst zur Debatte. Und mit einem Programm natürlich, dessen Schwerpunkt ein weiteres Mal nicht in der Progressive-Rock-Hochphase der Band liegen sollte.

Wer brauchte denn so was?
Eine Frage, die sich erst recht stellte, da Steve Hackett, der mit seiner Live-Band seit Jahren als wahrer und würdiger Gralshüter der alten Genesis gilt, gerade zeitgleich mit seiner alten Stammband auf großer Tournee war, um den 1977 erschienen Live-Klassiker “Seconds Out” in seiner Ganzheit aufzuführen.
Wer brauchte denn so was?
Eine Frage, die einfach zu beantworten war: alle Spätgeborenen, die Genesis niemals in ihrer klassischen Besetzung, aber auch niemals überhaupt haben sehen dürfen. Denn nicht nur die Prog-Klassiker der 70er haben einen ganzen Musikstil geprägt. Gleiches gilt auch für die Genesis der 80er und 90er-Jahre, die neben massentauglichen Radio-Hits übrigens auch weiterhin großartige Epen erschaffen haben. Und einer ganzen Generation die Tür zum Progressive Rock geöffnet haben.

Doch wer A sagt, der sollte auch B sagen! Denn der Besuch eines aktuellen Genesis-Konzertes wurde erst durch den direkten Vergleich mit einem Auftritt von Steve Hackett so richtig interessant. “Das ist ja wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen!” So werden da einige sagen. Vielleicht, doch ist das nicht weiter schlimm, wenn am Ende dieses Vergleiches nicht die Gleichsetzung, sondern das Ausarbeiten der Unterschiede steht. Und so standen letztendlich zwei Konzerte binnen vier Tagen auf dem Programm: zum einen Steve Hackett am Donnerstag, den 10. März. 2022 in der Frankfurter Jahrhunderthalle, zum anderen der erste von drei Auftritten von Phil Collins, Tony Banks und Mike Rutherford am Sonntag, den 13. März 2022 in der Kölner Lanxxess Arena.

Steve Hackett

Steve Hackett ist mittlerweile schon seit vielen Jahren mit immer wieder unterschiedlichem Genesis-Programm unterwegs gewesen. Für den Autor selbst bleibt dabei der Auftritt beim X. Night Of The Prog Festival unvergessen, als Hackett und seine damalige Band sich am Sound des 1973er “Genesis Live” orientierten. Sodass insbesondere ihre Version von ‘The Knife’ selbst Pain Of Salvation in Sachen Härte in die Schranken wies. Seit damals sind sechseinhalb Jahre vergangen und mit den Jahren hat sich auch die Zusammensetzung der Mitstreiter von Mr. Hackett verändert. So hat Craig Blundell auf dieser Tour anstelle von Gary O’Toole den Platz hinterm Schlagzeug eingenommen und Kajagoogoos Nick Beggs ist am Bass mittlerweile vom Blumenkönig Jonas Reingold ersetzt worden. Doch vor allem Rob Townsend, neben Keyboarder Roger King und Frontmann Nad Sylvan eine der Konstanten im hackettschen Line-up, sollte an diesem Abend den Genesis Klassikern seinen ganz besonderen Stempel aufdrücken.

Doch der Reihe nach, denn bevor es mit dem “Seconds Out”-Programm losging, wurden die Zuschauer durch die “Vorgruppe” beglückt. Nicht, dass es auf dieser Tour eine solche gegeben hätte, doch genauso musste sich die erste halbe Stunde des Abends für viele Zuschauer angefühlt haben, die nur wegen der Genesis Stücke gekommen waren. Denn die Verschiedenartigkeit von Hacketts Solo-Programm war insbesondere bei den beiden Stücken vom aktuellen Solo-Album “Surrender Of Silence” deutlich. Und auch mit einem Hackett-Klassiker wie ‘Every Day’ taten sich Teile des Publikums sichtlich schwer, obgleich sie von der technischen Brillanz der Musiker angetan schienen. Doch spätestens bei ‘Shadow Of The Hierophant’ waren die Parallelen zu Genesis nicht mehr von der Hand zu weisen, sodass sich viele nur ungern in die Pause begaben, da dieser ursprünglich für Genesis geschriebene Song doch eine perfekte Überleitung zum Hauptprogramm gewesen wäre.

Als es wenig später dann endlich mit ‘Sqounk’ und dem Überhit ‘The Carpet Crawlers’ weiterging, war die Stimmungssteigerung im Publikum unüberhörbar. Die Fans bekamen endlich, wofür sie gekommen waren: Genesis pur. Und das mit einem Sänger, der stimmlich sowohl an Gabriel als auch an Collins erinnert. Eigentlich die perfekte Wahl für ein solches Set, doch leider zeigte sich der symphatische Nad an diesem Abend leicht erkältet, sodass er mehr als einmal Schwierigkeiten hatte, den richtigen Ton zu treffen. Doch das schien nur wenige zu stören, vor allem nicht jene, die Genesis und Collins bereits in den Tagen zuvor hatten erleben dürfen. Gewöhnungsbedürftiger war da schon die musikalische Freiheit, die sich die fünf Künstler bei der Interpretation der Stücke nahmen. Denn obgleich des charakteristischen Gitarrenspiels von Hackett klangen viele Passagen doch arg anders als im Original. Grund hierfür war meist Rob Townsend gewesen, der die Querflöte wie beim Solo von ‘Firth OF Fifth’, ein um das andere Mal gegen ein Saxofon eintauschte. Es waren Vorlagen, die von Jonas Reingold und Craig Blundell gerne aufgegriffen worden, sodass man immer wieder auf Territorium vordrang, auf dem sich die Musiker normalerweise mit ihrem Seitenprojekt The Backstage tummeln. Wer hätte gedacht, dass man ‘I Know What I Like’ jemals in einer verjazzten Version hören würde?
Doch trotz aller Ausflüge und Spielereien blieben Hackett und Co. meist nah genug am Original. Natürlich brachte Roger King an den Keys seine eigene Note ein und ließ ein wenig die viktorianische Britishness eines Tony Banks vermissen. Und auch Craig Blundell ist viel zu sehr Individualist, als dass er jemals wie eine Kopie Collins’ klingen würde. Doch Hacketts Gitarre blieb einfach unverkennbar und wies immer wieder die Richtung, wenn es dann doch etwas zu verspielt wurde. Auszüge aus ‘The Musical Box’, ‘Suppers Ready’ und ‘The Cinema Show’, jeder Fan wusste, was an diesem Abend auf dem Programm stand. Eine Setlist, die zwar keine Überraschungen hervorbrachte, dafür aber stark auf die Tränendrüsen drückte. Denn vor allem ‘Suppers Ready’ in der Vollversion bot den anwesenden Fans alles, was sie seit dem Ende der 70er-Jahre an Genesis vermissen. Fans, die so begeistert waren, dass selbst der vorübergehende Ausfall von einem der Tonkanäle nur als Randnotiz wahrgenommen wurde. Und so klang der Abend nach einer kurzen Pause haargenau so aus wie seinerseits das Doppel-Vinyl: nämlich mit ‘Dance On A Volcano’ und dem langjährigen Set-Closer ‘Los Endos’.
Traditionell, kraftvoll und irgendwie auch nostalgisch. Ein Abend, den jeder so oder in ähnlicher Form auch in Zukunft noch weiterhin wird genießen können. Denn Steve Hackett steht zum Genesis-Erbe der 70er-Jahre.

Dies ist der erste Teil eines Doppelberichtes über die Auftritte von Steve Hackett und Genesis im März 2022.
Den zweiten Teil mit dem Bericht aus Köln findet ihr hier: Genesis, 13.03.22, Köln, Lanxess Arena

Setlist: Steve Hackett

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