Archive – Call To Arms & Angels

Archive - Call To Arms & Angels (Dangervisit, 29.04.22)(1:43:00; Boxset, Vinyl (2 LP), 2 CD, Digital; Dangervisit/[PIAS], 2022)

Die Musik von Archive in Worte zu fassen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Denn seit seiner Gründung im Jahre 1994 hat sich das Kollektiv um die ehemaligen House-DJs Danny Griffiths und Darius Keeler mit jedem Album neu erfunden. Musikalisch verarbeiteten sie dabei so unterschiedliche Stile wie Pop, Rock, Ambient, Trip Hop, Alternative Rock, Filmmusik, Prog Rock, Art Rock, New Artrock, Hip Hop, Shoegaze, Avantgarde, Post Rock und Industrial. Doch was sie musikalisch auch anstellten, sie waren klanglich immer eindeutig als Archive identifizierbar. Verschiedene Musiker stießen über die Jahre immer wieder neu zum Kollektiv dazu. Andere verließen es wieder. Und wiederum andere kehrten zu Archive zurück. Neben der Aufgeschlossenheit und Experimentierfreude von Griffiths und Keeler vielleicht der wichtigste Grund für die scheinbar grenzenlose Wandlungsfähigkeit des Londoner Künstler-Ensembles. Wie abwechslungsreich die Musik von Archive tatsächlich ist, das zeigte im Jahre 2019 die groß angelegte Werkschau namens “25”, mit welcher das Kollektiv sein silbernes Jubiläum zelebrierte. Eine 43 Stücke umfassende Sammlung, die aufgrund ihrer stilistischen Vielfalt wie ein Sampler erschien, aber klanglich so kohärent daherkam, dass man allen Stücken den Ursprung aus dem Archive anhören konnte.

“Call To Arms & Angels” ist das erste Studio-Album seit dem Erscheinen von “25” und gleichzeitig die erste Sammlung neuer Stücke der Briten seit nunmehr sechs Jahren. Eine Zeitspanne, die so groß ist wie noch keine andere Pause, die Archive jemals eingelegt hatten. Und so ist “Call To Arms & Angels” dann auch ein Doppel-Album und im Vinyl-Format sogar ein Tripple-Album geworden. 17 Songs, die das Beste sind, was Archive nach einer längeren kreativen Pause geschrieben und aus einer weitaus größeren Menge von Liedern ausgewählt haben. 17 Stücke, die allesamt stark genug sind, dass sie ihre Präsenz auf diesem Werk und gleichzeitig dessen Länge von gut 100 Minuten rechtfertigen. 17 Stücke, die abgesehen von Hip Hop alles repräsentieren, was Archive stilistisch jemals angefasst haben. 17 Stücke, die fast genauso vielfältig sind, wie das vor drei Jahre erschienene “25”. Durch das sie umfassende thematische Konzept und dessen Dynamik jedoch um Längen geschlossener wirken. Und wenn der ein oder andere Song auf sich alleine gestellt vielleicht nicht zu den stärksten im Kosmos von Archive gehört, so wachsen sie doch im dramaturgischen Albumkontext über sich hinaus.

Auffällig an “Call To Arms & Angels” ist, dass Archive sich gleichzeitig in drei verschiedene Richtungen entwickelt haben. So erscheinen viele Passagen auf das Wesentliche reduziert. Sie bestehen oft nur aus Stimme und Piano und überzeugen durch ihre ästhetische Schlichtheit, wie beispielsweise die erste Single-Veröffentlichung ‘Shouting Within’.

Eine Ausdrucksform, mit der das Kollektiv seinen tiefgründigen Texten Nachdruck verleiht, denn thematisch befassen sich Archive auf diesem Album mit den allgegenwärtigen globalen und sozialen Themen der Gegenwart. Ein Spiegel der Welt im Jahr 2021, mit welchem Archive nicht nur ihre eigenen individuellen und kollektiven Frustrationen und Herausforderungen porträtieren, sondern auch die Realitäten und täglichen Kämpfe aller Individuen. Texte, die vor allem von Wut, Verletzlichkeit und Angst geprägt sind.

Und so erklären sich auch die beiden anderen Extreme des Albums. Einerseits der endlich wieder vermehrte Einsatz von Gitarren, andererseits Sequenzen mit treibenden Beats, die den musikalischen Kreis zu den Anfangsjahren von Griffiths und Keeler in der Club-Szene schließen. Wie das hypnotische ‘We Are The Same’.

Doch auch hier ist nicht das Ende der Fahnenstange, denn der gegen Ende hin noch einmal aufrüttelnde EBM-Industrial-Crossover des Krachers ‘The Crown’, besticht zwar durch wabernde bis pulsierende Elektro-Beats, die allerdings so schräg herüberkommen, dass sie viel zu progressiv zum Tanzen sind.

Und auch Freunde klassischer progressiver Stilrichtungen können sich endlich wieder freuen, denn “Call To Arms & Angels” beinhaltet mit dem fast viertelstündigen ‘Daytime Coma’ nicht nur ein Stück, das in seinem dynamischen Song-Aufbau an Großtaten wie ‘Lights’ oder ‘Again’ erinnert.

Ganz generell haben Elemente aus Prog Rock sowie aus Kraut und Psychedelic wieder vermehrt Eingang in die so vielfältigen Song-Strukturen der Angelsachsen gefunden. Und sogar eindeutige Reminiszenzen an The Beatles sind in einem Stück wie ‘Freedom’ unüberhörbar.

Ein Album, das für so ziemlich jeden aufgeschlossenen Musik-Hörer etwas dabei hat, das ihm gefallen könnte. Und gleichzeitig eine Aufnahme, die einen auch Passagen überstehen lässt, mit denen man persönlich nur wenig anfangen kann, da hinter der nächsten Ecke schon wieder der ein Stilwechsel wartet.

Teapot of the Week
“Teapot of the Week” auf Betreutes Proggen in der KW17/2022

So ist “Call To Arms & Angels” nicht nur Archives abwechslungsreichstes Album überhaupt, es ist auch ihre stärkste Aufnahme seit dem auf zwei Alben verteilten, vierteiligen Konzeptalbum “Controlling Crowds” (2009), wenn nicht sogar seit ihrem 2002er Pink-Floyd-Gedächtnis-Album “You All Look The Same To Me”.
Bewertung: 13/15 Punkten (FF 13, MK 12, KR 12)

P.S.: Begleitend zum aktuellen Album haben Archive eine Dokumentation namens “Super 8” produziert. Der dazugehörige Soundtrack mit den beiden Singles ‘Super 8’ und ‘Night People’ erscheint als Bonus-CD als Teil verschiedener Formate von “Call To Arms & Angels”. Leider lagen uns die Soundfiles zu diesem Sountrack beim Erscheinen des Albums und dem Erstellen dieser Kritik noch nicht vor. Eine spätere Rezension ist geplant.

Tracklist:
1. ‘By Ghosts’ (4:30
2. ‘Mr Daisy’ (3:39)
3. ‘Fear There And Everywhere’ (4:41)
4. ‘Numbers’ (4:14)
5. ‘Shouting Within’ (4:49)
6. ‘Daytime Coma’ (14:34)
7. ‘Head Heavy’ (5:14)
8. ‘Enemy’ (8:38)
9. ‘Every Single Day’ (4:19)
10. ‘Freedom’ (9:41)
11. ‘All That I Have’ (6:29)
12. ‘Frying Paint’ (4:49)
13. ‘We Are The Same’ (3:58)
14. ‘Alive’ (3:44)
15. ‘Everything’s Alright’ (3:12)
16. ‘The Crown’ (8:31)
17. ‘Gold’ (8:26)

Archive - Call To Arms & Angels (Dangervisit, 29.04.22)
Besetzung:
Danny Griffiths
Darius Keeler
Dave Pen
Holly Martin
Lisa Mottram
Jonathan Noyce
Maria Q
Pollard Berrier
Steve Barnard

Diskografie (Studioalben & Soundtracks):
“Londinium” (1996)
“Take My Head” (1999)
“You All Look The Same To Me” (2002)
“Michel Vaillant” (2003)
“Noise” (2004)
“Lights” (2006)
“Controlling Crowds” (2009)
“Controlling Crowds – Part IV” (2009)
“With Us Until You’re Dead” (2012)
“Axiom” (2014)
“Restriction” (2015)
“The False Foundation” (2016)
“25” (2019)
“Super8” (2022)
“Call To Arms and Angels” (2022)

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Rezension: “Versions: Remixed” (2020)
Rezension: “Versions” (2020)
Rezension: “25” (2019)
Konzertbericht: 31.10.19, Köln, E-Werk

Abbildungen: Alle Abbildungen wurden uns freundlicherweise von [PIAS] zur Verfügung gestellt.