Tropische Frühlingsgefühle
Dass die Vorgruppe subjektiv erheblich mehr Anziehungskraft entfaltet als der Top Act, kam schon bisweilen vor (Alias Eye vor Saga zum Beispiele. Evergrey vor Kamelot! Oder phantastisch aufgelegte Gringo Starr vor wie halbtot agierenden …And You Will Know Us by the Trail of Dead). Und auch, dass dem durchaus vorgewarnten Berichterstatter beim Anblick des (mit heutigem Wissen formuliert: mehr oder weniger) weiblichen Protagonisten die Luft weg bleibt, soll es schon gegeben haben. Doch bei Trope – von denen immerhin das Lieblingsalbum des vergangenen Jahres des Autors stammt – und ihrem allerersten Auftritt in Deutschland überhaupt erwies sich das alles als nochmals steigerungsfähig…
Fairies Wear Boots
Konkret: Wenn Lady Di aka Diana Celes Studenberg völlig undramatisch, ja bescheiden, mit an ihrer zarten Gestalt etwas zu groß wirkenden Schuhen die Bühne betritt, kann schon mal kurzzeitig der Herzschlag aussetzen.
Solchen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt hatten sich zu dieser frühen Stunde (19:30 Uhr) leider noch keine 70 Gestalten, während es sich für den Top Act doch noch ein wenig füllte. Der Gesamt-Ticketverkauf belief sich laut Veranstalter auf bestürzend wenige 170 – in einer (übrigens gleichfalls echt hübschen) Halle mit einer Kapazität für 1.800. Auch sonst waren die Begleitumstände nicht perfekt: Den für diesen Support Slot zum Akustik-Duo geschrumpften Kaliforniern war zum einen ein Setting mit einigem Abstand vom vorderen Bühnenrand zugewiesen worden. Und wurde statt einer Lightshow nur ein recht bläulich-kühles, fast grelles Licht beschert. Quasi Nachhausegeh-Saalbeleuchtung, wenn auch gottlob nur über der Bühne. Wohlgemerkt nur an diesem Abend, an anderen gab es tolles Licht, wie uns die Künstler später berichteten.
Falls sie von alldem beeindruckt oder gar beeinträchtigt waren, ließen sich Di (Gesang) und Moonhead ((heute: akustische) Gitarre) davon nichts anmerken. Sondern stiegen beherzt in ihre halbe Stunde Spielzeit ein.
Und das quasi nackt, ohne Loops und Zuspielungen und bis auf kathedralen Hall ohne erkennbare Effekte. Als allerersten Gang hatten sie klugerweise ‘Lambs’ ausgewählt, einen der stärksten Songs vom gottvollen Debüt “Eleutheromania”. Und gerade im Riffing und dem Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug mit einem unverschämten Tool-Flair gesegnet. Bange Frage – wie soll das im Lagerfeuer-Duo-Format bloß funktionieren? Antwort: allerbestens. Erstens, weil Moonhead es hinbekommt, die Essenz der Basslinie als Begleitung mit dem Daumen eben mal so auf der Akustischen mit zu spielen. Zweitens, weil jedes Weglassen automatisch mehr Raum und Aufmerksamkeit für Dianas umwerfende Stimme ergibt.
Trope-Novize und BetreutesProggen-Leser Kai neben mir gab ein superbes Testkaninchen ab: Da er die Songs nicht kannte, fiel ihm weiter nichts Besonderes an den Stripped-Down Versionen auf. Aber er war schwer angetan und kaufte hernach das Album – hervorragender Geschmack, der Mann!
Wer ‘Lambs’ aber kennt und liebt, der wartet bei circa Minute Zwei auf den Ausbruch, wenn der Song sich kurzzeitig in heavy Riffing überschlägt. Hier natürlich Fehlanzeige. Die verblüffende Lösung: An genau der Stelle noch zurückgenommener, noch ruhiger werden. Funktioniert! Bei etwa 3:50 erwartet der Fan den ersten lustvollen Scream der Sängerin. Weil das aber hier das Konzept sprengen würde, schreit die Lady zwar durchaus. Und ungemein gekonnt. Sie geht dafür aber 1,50 Meter vom Mikrofon weg!
Auch dem ohnehin eher unmetallischem ‘Plateau’ oder ‘Surrogate’ hat die Akustik-Kur nicht geschadet, dem melodischen Triumph ‘Planes’ steht sie sogar ausgezeichnet. Bei ‘Pareidolia’ fehlt zunächst ein wenig der “Telefonstimmen”-Effekt, aber eine gute Komposition verträgt eben auch Reduktion mit Bravour.
‘Seasons Change’ hat noch nie so melancholisch und wunderschön geklungen wie an diesem Abend. Mit dem ohnehin komplex umarrangierten Cover ‘Shout’ ging viel, viel zu schnell eines der Konzerte des Jahres zu Ende. Doch, das ist jetzt schon absehbar.
‘Breach’ wurde übrigens nicht gegeben. Aber so ähnlich wie hier kann man sich Trope unplugged vorstellen.
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Versions of Versions of the Truth
Wichtig: Der Autor mag die Ananasdiebe, kennt sie seit “Variations on a Dream” (2003), hat sie oft und jedes Mal mit Freude live gesehen und den Räuberhauptmann Bruce Soord auch schon ausgesprochen gerne interviewt. Die klare Parteilichkeit in diesem Fall hat also wirklich nicht das Geringste mit der Güte von The Pineapple Thief zu tun. Sondern nur mit den nochmals beeindruckenderen Qualitäten von Trope.
Für Bruces Freundlichkeit und Professionalität bürgt zum Beispiel, dass es in seiner Ansage nach ‘Demons’ direkt nach “Good Evening” heißt: “Thank you Trope!” Vorher hatten wir uns schon an der intensiven Beziehungs-Rashomon-Kurzfilm-Version ‘Versions of the Truth’ und dem wunderbar-traurigen ‘In Exile’ erbauen können.
Die Besetzung ist im Vergleich zur letzten vom Schreiberling gesehenen Besetzung bis auf den begnadeten Godsticks-Boss Darran Charles als Lead-Gitarrist stabil geblieben. Zwar klang eine von Bruces Ansagen wie “This one features Darran“. Aber das muss wohl ein Verhörer (für Beren (Matthews)) gewesen sein. Wenn Darran nicht plötzlich fast seines ganzen Bartwuchses und einiger Lebensjahre verlustig gegangen und zur Rhythmus-Gitarre gewechselt ist.
Heißt unter anderem: Bruce soliert sehr achtbar selbst. Und der wohl vergleichsweise “berühmteste” im Team, Gavin Harrison, sortiert die Dinge vom Drum-Hocker aus. Übrigens weiterhin mit zu 90 Prozent griesgrämigen Gesicht. Vermutlich eine allergische Reaktion auf anwesende Fotografen? Oder ahnte er dumpf, dass seine Snare mehrere Songs lang im Mix leider viel zu präsent war, die mit weitem Abstand lauteste Tonquelle überhaupt?
Apropos Sound: ein echtes Manko des zweiten Sets war, dass es buchstäblich von Song zu Song unnötigerweise immer lauter wurde. Immer noch klar, aber während man anfangs noch wenigstens jenseits der Saaltüren einige Worte wechseln konnte, war das etwa ab Song Nr. 6 lautstärkebedingt leider nicht mehr möglich.
Total positiv jedoch fiel die immer besser werdende zweite Stimme seitens Bassist und Lockenwunder Jon Sykes auf.
Das eindringliche ‘No Man’s Land’ leitete zu ‘Break it all’ über (und nicht zu ‘Our Mire’, wie setlist.fm vorläufig noch behauptet, siehe untenstehender Link). Besonders interessant wurde es noch bei ‘Wretched Soul’ (von “10 Stories Down”, 2005), anlässlich dessen Bruce ankündigte, es werde dieses Jahr noch ein Album mit gemeinsam mit Gavin stark überarbeiteten alten Songs herauskommen.
Doch das war auch in etwa der Zeitpunkt, wo es dem Autor zu laut wurde. Hinzu kam noch der dräuende nächste Arbeitstag benebst noch anstehender Rückfahrt von 100 km. Die allerdings mit betörenden Erinnerungen zugebracht wurde. Fairies wear boots…
PS: Ein besonderer Dank geht an die lokale Mitarbeiterin vom Veranstalter Wiv Entertainment, die mich in der ganzen Halle gesucht hat, nur um mir ein übrig gebliebenes Hardticket als Souvenir zu verehren. Wonach ich beim Einlass gefragt hatte. Menschen mit einer derartig unbegreiflichen Nettigkeit und Arbeitsethos schuften in einer Branche, die von der Politik in der Pandemie ungerührt dem Tod durch Verhungern überlassen wurde.
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Rezension: “The Soord Sessions Volume 1-4” (2021)
Konzertbericht 2021
Rezension: “Versions Of The Truth” (2020)
Rezension: “Hold Our Fire” (2019)
Konzertbericht: 28.09.18, Köln, Live Music Hall
Rezension: “Dissolution” (2018)
Rezension: “Where We Stood” (2017)
Konzertbericht: Köln, Luxor, 13.09.17
Konzertbericht: 25.01.17, Oberhausen, Zentrum Altenberg
Rezension: “Your Wilderness” (2016)
Interview: Bruce Soord, The Pineapple Thief, zu “Your Wilderness” (2016)
Surftipps zu Trope:
Mehr Fotos vom Abend
Setlist vom 27.02.22 (identisch mit 09.03.)
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Rezension “Eleutheromania” (2021)
Interview mit Lady Di und Moonhead (2021)
Danke für die diesmal ganz besonders tollen Live-Fotos an: Andrew Ilms