(54:22, CD/LP/Digital, earMusic/Edel, 2022)
Kaum zu glauben, dass es bereits sechs Jahre her ist, dass Marillion ihr letztes “richtiges” Studioalbum “F.E.A.R.” veröffentlicht haben. Beschäftigt waren die Bandmitglieder trotzdem: hauptsächlich mit semi-orchestralen Neubearbeitungen älterer Stücke und den dazugehörenden Touren, aber auch mit jeder Menge Solo-Aktivitäten: Alben mit Transatlantic, Kino, Isildurs Bane, Ranestrane und Marathon, Songs mit Trevor Horn, Lonely Robot, Steve Hackett oder Ayreon. Zusätzlich konnte sich der Fan an den in Buchform erhältlichen Lebenserinnerungen von Steve Hogarth, Mark Kelly und Ian Mosley erfreuen. Die Erwartungen an ein neues Studiowerk nach sechs Jahren darf man also durchaus hoch ansetzen. Sechs Jahre – das entspricht schließlich der Zeit von “Script” bis “Seasons End”, oder gar von “Brave” zu “Anoraknophobia”.
Allerdings: das Neuerfinden, das die Band in den ersten 22 Jahren ihrer Karriere immer wieder praktiziert hat und welches oft auch mit dem Geschmack des konservativen Fanclub-Flügels kollidierte, ist ja schon seit einigen Jahren Geschichte. Und so ist “An Hour Before It’s Dark” auch ziemlich exakt so ausgefallen, wie man das als langjähriger Follower prognostizieren konnte: punktgenau in der Mitte zwischen “F.E.A.R.” und “Sounds That Can’t Be Made”. Mehr Uptempo als “F.E.A.R.” (weniger davon wäre wohl auch schwer gewesen), aber deshalb nicht notwendigerweise wirklich “rockiger”. Denn – und auch das war mit Mike Hunter auf dem Regiestuhl zu prophezeien – die Produktion wirkt erneut sehr glatt, steril und wenig dynamisch, was den Songs viel von ihrer Energie nimmt und Details verschluckt. So sind beispielsweise die großartigen Gary-Numan-Synthies in der zweiten Strophe von ‘Murder Machines’ komplett in den Hintergrund gemischt, auch auf die wie immer großartigen, hochmelodischen Bass-Parts muss man ganz bewusst achten, weil sie sich oft im Gesamtsound verlieren. Die Drums klingen viel zu oft nach Samples, und bewegen sich wie die ganze Musik auf dem gleichen Dynamiklevel, ob Ian Mosley nun sanfte Rimclicks oder seine großen Trademark-Läufe über alle verfügbaren Toms spielt.
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Das ist besonders schade, weil es scheint, als habe die Band insgesamt doch auch ein wenig auf die Kritik am Vorgänger reagiert. Die komplette erste Hälfte des Albums klingt deutlich melodieverliebter und strukturierter als die teils arg zusammengestückelt wirkenden Jams des Vorgängers. Auch die Spielzeit von rund 55 Minuten legt nahe, dass hier ein Stück weit die Schere angesetzt wurde. Einen ‘echten’ Popsong wie weiland ‘Between You And Me’, ‘You’re Gone’ oder gar ‘Cover My Eyes’ gibt’s zwar erneut nicht – das eingängige ‘Murder Machines’ mit seinen viereinhalb Minuten ist aber schon recht nah dran. Auch ‘Reprogram The Gene’ und ‘Be Hard On Yourself’ zeigen die Band eher von von ihrer rockigen Seite – zumindest theoretisch. Dass diese nicht so richtig zur Geltung kommt, liegt einmal mehr an – richtig! – der Produktion. Am Deutlichsten zu hören ist das Problem vielleicht beim Longtrack ‘Care’, der vom elektronisch gefärbten Start mit “Anoraknophobia”-Flair über betont klassische Rothery-Soli wie zu “Misplaced Childhood”-Zeiten und gar kratzigen Britpop-Sounds a la “Radiation”/”.com” eine ganze Menge an unterschiedlichen musikalischen Stimmungen durchläuft, aber nie so richtig explodieren darf. Speziell das ‘it’s gonna take you with it’-Segment hätte mindestens so losgehen können wie seinerzeit der Mittelteil von ‘Interior Lulu’ oder die zweite Hälfte von ‘Ocean Cloud’, tut’s aber leider nicht. Auch die beiden ruhig-getragenen Stücke ‘The Crow And The Nightingale’ (textlich eine wunderschöne Hommage an Leonard Cohen) und ‘Sierra Leone’ können musikalisch absolut überzeugen, und live werden die auch sicher wieder die Dynamik entfalten, die ihnen hier abgeht. Man kann sich nicht des Gedankens erwehren, was jemand wie Dave Meegan (was wurde aus dem eigentlich?), Rob Aubrey (Big Big Train) oder Andy Bradfield (Mark Kellys “Marathon”) aus dem Material vielleicht noch herausgeholt hätte – oder gar Hochkaräter wie der erwähnte Trevor Horn oder ein Tony Visconti?
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Unkaputtbar hingegen sind Steve Hogarths einmal mehr großartiger Gesang, der sich, den düsteren textlichen Aussichten folgend, fast ausschließlich in den tiefen Lagen hält (kaum mehr Falsett!), was aber perfekt zu Stimmung und Inhalt der Musik und der Lyrics passt. Und wenn h selbst in ‘The Crow And The Nightingale’ bezüglich Cohens Wortkunst zu Buche gibt, das “it doesn’t really matter whether or not I understood them”, darf der Rezensent auch zugeben, dass es angesichts der Bildersprache und Gedankensprünge der Hogarth-Texte nicht immer einfach ist, der Intention des Autoren zu folgen – but who cares, wenn’s so wundervoll klingt? Dazu gibt’s natürlich auch wieder jede Menge anbetungswürdige Gitarrensoli von Steve Rothery, dichte Synthie- und Piano-Arrangements von Mark Kelly – natürlich läuft Marillions Achtzehnte auch trotz der schwachen Produktion erhobenen Hauptes ins Ziel.
Ja, auch wenn’s nichts Neues im Hause Marillion (mehr) gibt, serviert die Band ähnlich wie beispielsweise Steve Hackett oder Magnum nach wie vor (auch durchaus sehr leckeres!) “comfort food”, das die langjährig treue Zielgruppe bestens bedient und ganz sicher nicht mit einem ‘Personal Shopper’ verwirrt. Der Erfolg gibt der Band fraglos recht, und natürlich ist es auch fraglos schwierig, sich nach über vierzig Jahren künstlerisch noch herauszufordern – gerade, wenn besagtes “comfort food” bei der Fanbase so populär ist. Das Songwriting auf “An Hour Before It’s Dark” lässt aber oft genug spüren, dass die Bettkarten der Band ungeachtet des Albumtitels noch nicht geknipst sind, und vermutlich noch eine ganze Menge mehr drin wäre, wenn man sich denn mal wieder mit einem anderen Produktionsteam umgeben würde.
Bewertung: 11/15 Punkten (MBü 12, WE 11, AF 8, FF 11, SG 11, AI 10, KR 9, KS 11)
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Rezension “All One Tonight – Live At The Royal Albert Hall”
Rezension “Marbles In The Park (Blu-ray/DVD)”
Rezension “F.E.A.R. (Fuck Everyone And Run)”
Konzertbericht: 25.07.17, Frankfurt am Main, Batschkapp
Konzertbericht: 16.07.17, Sankt Goarshausen, Freilichtbühne Loreley (XII Night of the Prog Festival)
Abbildungen zur Verfügung gestellt von networking Media und earMusic
2 Kommentare
ich sehe das ein wenig anders und finde das dieses neue Album eine Weiterentwicklung von FEAR ist.
Was ist jetzt neu? Viele Songs werden von wunderschönen Chören begleitet und vermitteln so einen voluminösen Sound der unter die Haut geht.
Weiter finde ich das Zusammenspiel von Steve Rothery und Mark Kelly einfach fantastisch. Beide sind nie zu stark im Vordergrund und es klingt einfach perfekt für mich. Gerade Rothery´s Gitarrenspiel hat mehr Tempo, ist nicht so Blueslastig, das gefühlvolle Spiel war ja immer schon seine Stärke. Aber hier auf dem neuen album stimmt einfach alles bei ihm, ich finde seine beste Leistung (war aber nie schlecht bei ihm!!).
Ich fand schon Mark Kellys Keyboards auf FEAR extrem gut, immer auf den Punkt, eher als Begleitung und Untermalung der Songs. Hier sind so viele schöne Melodien entstanden und bringen einen teilweise in andere Sphären! Was sich noch zum positiven geändert hat, ist, dass die Songs mehr Tempo und Rhythmus haben.
Beim hören des neuen Albums dachte ich nach jedem Song, ok, dass geht nicht mehr besser. Doch jeder Song, so verschieden sie sind, sind so grandios, ich habe die letzten Jahre nichts annähernd vergleichbar gutes von einer Band gehört. Ein Album für die Ewigkeit….
Ich kann Stefan in allem nur zustimmen und kann der, trotz 11 Punkten, sehr negativen Kritik des SASCHAG, vor allem was die Produktion angeht, nicht folgen. Das Album wird tatsächlich mit jedem Durchgang besser! Das Spiel der Band passt perfekt zusammen! Eine tolle Leistung gerade von Rothery und Kelly! Immer wieder Gänsehaut pur!
Vor allem die andernorts kritisierten Texte Hs sind tiefgründiger und emotionaler denn je. Und wie aktuell! „ Push The Button…“ das ist doch gruselig, wenn man nach Osten blickt.
Ein grandioses Werk, bei dem alles passt. Geht es noch besser?