Kommt man als Deutscher Musikfan erstmals in das luxemburgische Esch, drängt sich einem unwiderbringlich die Frage auf, warum es so etwas wie die dortige Rockhal nicht auch in deutschen Gemeinden gibt. Denn die erst 2005 eröffnete Konzerthalle ist extra für den Zweck gebaut worden, fortan als Spielstätte elektrisch verstärkter Musik zu dienen. Deshalb auch der offizielle Name des Venues: Centre de musiques amplifiées. Wo in Deutschland also nur Opernhäuser und Philharmonien vom Staate finanziert und von Stararchitekten gebaut werden und populärkulturelle Künstler in der Regel mit gesichtslosen Mehrzweckhallen, verranzten Industriegebäuden oder miefigen Kellerlöchern vorlieb nehmen müssen, steht im Städtchen an der Alzette ein nur wenige Jahre alter Musik-Tempel, der in allen Belangen den Bedürfnissen von Rockfans entspricht. Angefangen bei den beiden unterschiedlich großen Sälen mit exzellenten Klang- und Sichtverhältnissen über das angegliederte Rock-Café bis hin zu den sechs Proberäumen und dem integrierten Musikstudio für einheimische Künstler. Von der exzellenten Anbindung an das kostenlose luxemburgische Nahverkehrsnetz einmal ganz zu schweigen.
Beste Vorraussetzungen also für einen vielversprechenden Konzertabend mit Leprous und Wheel. Zwei Progressive Metal-Bands, die es mit ihren aktuellen Studioalben “Aphelion” bzw. “Resident Human” in viele Prog-Bestenlisten des Jahres 2021 geschafft haben. Zudem waren die beiden Gruppen nicht alleine unterwegs, sondern hatten mit Aiming For Enrike ein aufstrebendes norwegisches Duo im Schlepptau. Eine Band, die zuletzt vermehrt auf Szene-Festivals aufgetreten war, den werten Kollegen Meurer mit seiner “Music For Working Out” jedoch nur bedingt überzeugen konnte.
Aiming For Enrike
Es ist schon nachvollziehbar, dass Aiming For Enrike nicht jedermanns Geschmack sind, denn obwohl das Duo in der Regel der Prog-Szene zugerechnet wird, kreierten Simen Følstad Nilsen und sein Kollege Tobias Ørnes Andersen auch heute einen hypnotischen Sound, der mit harten Synthie-Effekten arbeitete und deutliche Einflüsse aus Electronic Music und New Wave erkennen ließ. Dass da wirklich nur zwei Leute auf der Bühne standen, das verwunderte dann schon sehr. Dass sie überhaupt dort standen, übrigens noch mehr. Denn erstens hatten einige Spielstationen der Tournee auf Grund von Pandemie-Auflagen abgesagt werden müssen und zweitens hatten die Norweger noch Tage zuvor, zusammen mit Wheel, an der britisch-französischen Grenze am Ärmelkanal festgehangen, so dass der Auftritt in Paris von Leprous alleine bestritten werden musste.
Und auch, dass außer Gitarre und Schlagzeug keine weiteren Instrumente auf der Bühne präsent waren, führte zu einiger Verwunderung. Doch wofür andere Gruppen ‘zig Musiker benötigen, brauchten die Norweger an diesem Abend nur ein paar Effektgeräte und vor allem jede Menge Loops. Ex-Leprous Schlagzeuger Tobias Ørnes Andersen trommelte sich hinter seiner Schießbude fast in Trance und bildetete dass solide rhythmische Grundgerüst für Simen Følstad Nilsens Soundexperimente. Dieser wirkte durch seine ruhige Art und sein dazu passendes Kragenhemd fast schon zurückhaltend, was sich auch in seiner fehlenden Kommunikation mit dem Publikum widerspiegelte. An seinem Instrument jedoch, und vor allem an seinen Pedals, die auch immer mal wieder mit Händen und Fäusten bearbeitet wurden, fand Nilsen niemals Ruhe.
Doch mehr als Staunen und freundlichen Applaus lösten Aiming For Enrike beim Luxemburger Publikum nicht aus. Zu weit weg vom Durchschnittsgeschmack des Prog-Metal-Fans schien der Stil zwischen 80er King Crimson, Primus und elektronischen Spielereien. Denn selbst tanzbare Electro-Beats und Off Beat-Sequenzen konnten das Publikum nur vereinzelt in Tanzbewegungen versetzen. Schade, denn die Osloer hatten auf der Bühne spieltechnisch überzeugt. Hätten die beiden Musiker vielleicht einfach ein wenig mehr mit dem Publikum interagieren müssen?
Wheel
Auch beim anschließenden Auftritt von Wheel ließ sich niemand in Publikum zum Tanzen verleiten, doch dass hatte wohl ausschließlich mit der musikalischen Ausrichtung des finnisch-britischen Quartettes zu tun. Denn gute Stimmung war bei der Darbietung von James Lascelles (Gesang & Gitarre), Santeri Saksala (Schlagzeug), Aki Virta (Bass) und Jussi Turunen (Lead-Gitarre) mehr als genug vorhanden. Dies lag nicht nur an der tadellosen Leistung der Musiker, sondern mitunter auch am glasklaren Sound, der schon bei Opener Aiming for Enrike besser gewesen war als in manch anderen Hallen beim Headliner. So transparent und wohlklingend wie heuer hatte der Redakteur die in Helsinki residierenden Wheel bisher noch nicht erlebt. Gar kein Vergleich zu dem soundtechisch verkorksten Auftritt im Vorprogramm von Soen im Kölner Helios 37 oder jenem in der Elektroküche beim 2019er Euroblast. Und auch hinsichtlich ihrer Bühnenpräsenz erweckten Wheel den Anschein, als hätten die zahlreichen Touren der vergangenen Jahre die Band noch professioneller werden und reifen lassen.
Leider hatten Wheel mit ungefähr 40 Minuten Spielzeit nicht die Möglichkeit, ihr neues Album “Resident Human” in voller Länge vorzustellen, und so wählten sie mit ‘Dissipating’ und ‘Hyperion’ zwei der länsgten und abwechslungsreichsten Stücke der Scheibe, um ihren Kosmos zwischen bedächtigem Progressive Rock, Toolscher Rhythmik, zeitgenössischem Progressive Metal und Killer-Hooklines abzubilden. Es war eine Vorstellung, die exzellent gelang, vor allem auch deswegen, weil die tontechnischen Vorraussetzungen an diesem Abend die Dynamik der Stücke mindestens genauso gut abbildeten wie jene Aufnahmen auf Tonträger. Vervollständigt wurde das Set durch zwei Lieder vom Erstlingswerk “Moving Backwards”, die an zweiter und an letzter Position gespielt worden. Vor allem das kurze und knackige ‘Vultures’, das 2019 als Single veröffentlicht worden war, stellte eine willkommene Abwechslung zwischen den drei Longtracks dar und ermöglichte es Wheel, dem Publikum die volle Breitseite zu geben. Dies galt insbesondere für Ari Virta – der nicht ohne Grund den Spiznamen Conan trägt – da er seine fetten Bass-Sounds mit metal-tyipschem Posing unterlegte.
Und ‘Wheel’ als Abschluss-Track hätte wohl nicht besser gewählt sein können, denn ‘Shut up and give me the medicine’ ist wohl der beste Chorus den die Formation aus der finnischen Hauptstadt jemals geschrieben hat. Welch krönender Abschluss eines wundervollen Ab…
Ach nein, da kam ja noch was!
Leprous
“Leprous From The Beginning – 20th Anniversary Tour – From Early Demos To Aphelion – Chronological Show”
Schon der Titel, unter dem die Konzerte der aktuellen Tournee von Leprous beworben worden waren, hatte aufhorchen lassen. Selbst langjährige Fans, die mit der jüngsten Entwicklung der Band nicht mehr hatten mitgehen können, waren nach der Ankündigung eines karriereumspannenden Sets plötzlich ganz aus dem Häuschen gewesen. Dass Leprous zu ihrer musikalischen Vergangenheit stehen war eingängig bekannt, schließlich hatte die Formation um die beiden Gründungsmitglieder Tor Oddmund Suhrke und Einar Solberg in der Vergangenheit immer mal wieder ganze Alben aus ihrem Backkatalog auf die Bühne gebracht. Doch einen Rückgriff auf die ganz alten Sachen von “Tall Poppy Syndrome” (2009) hatte es schon seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Ganz zu schweigen von den Stücken der beiden Demo-Platten “Silent Waters” (2004) und “Aeolia” (2006). Zu gravierend waren die stilistischen Unterschiede gewesen, als dass sich die Lieder in eine aktuelle Setlist hätten einfügen lassen.
An disem Abend jedoch passten die Stücke aus den Kindertagen der Band wie die Faust aufs Auge, denn erst durch die Gegenüberstellung des Progressive Metal der Frühzeit und der avantgardistischen Stücke der aktuellen Phase der Band, wurde die Metamorphose deutlich, die Leprous in den beiden letzten Dekaden vollzogen haben. Doch wer gedacht hatte, man würde heute in den Genuss von frühen Meisterwerken wie den Epics ‘Silent Waters’ oder ‘Disclosure’ kommen, der wurde in seinen Wünschen nur ansatzweise bedient, denn die ersten acht Jahre der Band-Historie wurden in Form eines Medleys zusammengefasst. Interessanterweise griff man dabei sogar auf Ausschnite des ersten Liedes zurück, das Leprous jemals geschrieben haben. Ein Song, der auf das Jahr 2001 zurückgeht und bis heute namenlos geblieben ist. Während des Medleys herrschte übrigens reges Treiben auf der Bühne, denn die Norweger hatten zwei Drum-Kits mit auf die Tour gebracht. Eines für Haus- und Hof-Schlagzeuger Baard Kolstad und eines für seinen Vorgänger Tobias Ørnes Andersen, der bis 2014 seine Brötchen bei der Band verdient hatte. Und so saß manchmal Kolstad hinter dem Schlagzeug und dann wieder Andersen, und ehe man sich versah, trommelten schon beide Duett. Passend zu den einzelnen Songfragmenten, wurden auf der Leinwand hinter den Musikern alte Fotos bzw. die Cover-Artworks der verschiedenen Scheiben eingeblendet. Und spätestens, als die namensgebende Mohnblume des Artworks von “Tall Poppy Syndrome” als Projektion erschien, hatte es auch den letzten im Publikum gepackt. Denn obgleich das Debütalbum schon bei Erscheinen großes Aufsehen erregt hatte, wirkten die Stücke ‘Passing’ und ‘Dare You’ musikalisch gereift. Besondere Akzente erfuhr dabei letzterer Song, bei welchem Trompeter Pedro Miguel Nuñez Diaz zum ersten, aber nicht letzten Mal an diesem Abend die Bühne betrat, um die Kollegen blaskräftig zu unterstützen. Schade nur, dass die Band auf dieser Tour auf den ursprünglich eingeplanten Cellisten Raphael Weinroth-Browne hatte verzichten müssen.
Und so ging der Abend weiter, ohne dass zwischen den Liedern große stilistische Brüche aufgetreten wären. Die Songs der einzelnen Perioden verschmolzen zu einer Einheit. Herausragend waren dabei vor allem die vereinzelten Death Metal Vocals von Sänger Einar Solberg, denn genauso wie seine hohen Tonlagen hat sich auch sein harrscher Gesang über die Jahre zum Besseren entwickelt. Man mag es in diesem Falle kaum mehr wagen von Growls zu sprechen, denn was da ertönte waren tief aus der Seele kommende Laute, die den Begriff Gesang nicht zu scheuen brauchten.
Opulenz, Schwere und auch immer wieder Pathos waren die Zutaten dieses Abends, mit welcher Leprous in unterschiedlicher Dosierung auf der Bühne ihre Songs entstehen ließen. Longtracks der hohen Prog-Phase der Band wie ‘Forced Entry’ oder ‘The Valley’ durften dabei genausowenig fehlen, wie die Gassenhauer des 2015er albums ‘The Congregation’. Ein Album, welches eine Art Scheidepunkt in der Karriere der Norweger dastellt, da dieses den Übergang vom ausladenden Progressive Metal zum avantgardistischen Heavy Art Rock markiert und mit eingängigen Live-Klassikern wie ‘The Price’ und ‘Slave’ gespickt ist, die an diesem Abend beide den Weg auf die Bühne fanden. Zwei weitere Höhepunkte auf einer Kurve, die nur einen weg zu kennen scheint: Nach oben!
Und so verdichtete sich die Stimmung in der Rockhal immer weiter, je später der Abend wurde. Das spannungsreiche ‘Bonneville’ wurde mit großer Resonanz entgegengenommen, während ‘From The Flame’ von vielen im Publikum lauthals mitgesungen wurde. Und wer bei Aiming For Enrike noch gedacht hatte, dass das hiesige Prog-Publikum nicht tanzen wolle, der wurde spätestens jetzt eines Besseren belehrt. Eine wirkliche Überraschung erfolgte dann bei den Stücken ‘Below’ und ‘Distant Bells’ vom 2019er “Pitfalls”-Album, da diese viel gitarrenlastiger interpretiert worden als noch bei der letzten Tour und durch den Einsatz der Trompete um ganz neue Klangfarben ergänzt wurden. Versionen, die sich reibungslos in das Gesamtset des Abends einfügten und auch Fans der alten Schule begeistert haben sollten. Fehlten also nur noch die Stücke des letzten Studioalbums “Aphelion”, welches bisher noch nicht betourt werden konnte. Orchestraler und opulenter als alles zuvor Gehörte, erinnerte vor allem ‘Out Of Here’ stark an Musik aus einen James Bond-Soundtrack, die gegen Ende hin jedoch ins metallische abriften sollte. Sie fungierte als perfekter Übergang zum abschließenden ‘Nighttime Disguise’ . Ein Stück, das alles in sich vereinte, was Leprous an diesem Abend aus der Zeitkapsel hervorgeholt hatten, denn von Prog über Avantgarde und von Pathos bishin zu Death Growls war in diesem von Fans mitkomponierten Stück alles vorhanden, für was die Band jemals gestanden hatte.
So war man plötzlich im Jahre 2021 angekommen und hatte zum bisherigen Ende der musikalischen Karriere aufgeschlossen. Was konnte also noch als Zugabe folgen? Eine weniger bekannte B-Seite von “Aphelion” oder vielleicht sogar ein ganz und gar neues Stück? Nein. Leprous brachen einfach mit dem Chronologie-Konzept und griffen auf ein Lied zurück, dass sich schon bei der letzten Tour als perfekter Konzertabschluss bewährt hatte: ‘The Sky Is Red’. Und auch heute war das Magnus Opum von “Pitfalls” die richtige Wahl. Und entließ die Fans freudestrahlend in die Dezember-Nacht. Sie hatten bekommen, wofür sie gekommen waren. Eine Zeitreise der ganz besonderen Art, dargeboten von einer Band, die live auch nach 20 Jahren noch zu überzeugen und zu überraschen weiß. Man kann gespannt sein, was die Zukunft für Leprous noch bringen mag.
Text & Live-Fotos (Aiming For Enrike): flohfish
Live-Fotos (Wheel & Leprous): JacQue Photography
Setlists:
Aiming For Enrike
Wheel
Leprous
Surftipps zu Aiming For Enrike:
Homepage
Facebook
Instagram
Twitter
Bandcamp
Soundcloud
YouTube
YouTube Music
Spotify
Apple Music
Amazon Music
Deezer
Napster
Qobuz
Shazam
last.fm
Discogs
ArtistInfo
Prog Archives
Wikipedia
Rezension: “Music For Working Out” (2020)
Surftipps zu Wheel:
Homepage
Facebook
Instagram
Twitter
Soundcloud
YouTube
Spotify
Apple Music
Amazon Music
Deezer
Tidal
Napster
Qobuz
Shazam
Last.fm
Discogs
ArtistInfo
Prog Archives
Rezension: “Resident Human” (2021)
Konzertbericht: 15.02.20, Köln, Club Volta
Konzertbericht: 21.03.19, Köln, Helios 37
Rezension: “Moving Backwards” (2019)
Surftipps zu Leprous:
Homepage
Facebook
Instagram
Twitter
MySpace
Soundcloud
YouTube
Spotify
Apple Music
Amazon Music
Deezer
Tidal
Napster
Qobuz
Shazam
Last.fm
Discogs
ArtistInfo
Prog Archives
Metal Archives
Wikipedia
Rezension: “Aphelion” (2021)
Konzertbericht: 08.02.20, Dortmund, Junkyard
Konzertbericht: 05.11.19, Köln, Die Kantine
Rezension: “Pitfalls” (2019)
Rezension: “Malina” (2017)
Rezension: “Live At Rockefeller Music Hall” (2016)
Konzertbericht: 04.06.16, Oslo (NO), Rockefeller Music Hall
Konzertbericht: 06.04.16, Essen, Turock
Rezension: “The Congregation” (2015)
Weitere Surftipps:
Venue & Veranstalter: Rockhal