Festival for Progressive Music …
… So lautet der offizielle Untertitel des Kölner Euroblast Festivals. Doch Euroblast bedeutet keinesfalls nur Progressive Rock im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr experimentelle Sounds der härteren Gangart. Und so stehen neben Bands aus dem Progressive Metal normalerweise hauptsächlich Gruppen aus den Genres Djent, Metalcore und Post Metal auf der Bühne. Und darüber hinaus auch immer wieder die eine oder andere Überraschung.
Nachdem die 2020er Edition des Drei-Tage-Festivals auf das Jahr 2021 hatte verschoben werden müssen, fand das Spektakel in der Deutzer Essigfabrik letztendlich nur in einer abgespeckten Variante statt. Headliner wie Plini, Dirty Loops, Zeal & Ardor und The Dear Hunter mussten alle vom Billing gestrichen werden, so dass am Ende nur eine halbtägige Rumpfveranstaltung übrigblieb. Und eigentlich noch weniger, denn das 2021er Volume des Festivals entpuppte sich zum Schluss als nichts anderes, als einer von vielen Stops der ukrainischen Shooting Stars Jinjer und deren beiden Vorgruppen auf ihrer Europatour; plus einer zusätzlichen Band. Dies hielt viele Fans jedoch nicht davon ab, aus den unterschiedlichsten Ecken des Kontinents an den Rhein zu reisen, auch wenn Jinjer zurzeit gefühlt jede Ecke Europas mit ihren Live-Auftritten beglücken. Denn Euroblast ist so viel mehr als lediglich die Bands, die auf dem Festival auftreten. Euroblast ist Familie. Ein alljährliches Wiedersehen von Musikern, Veranstaltern, PR-Agenten, Presse und Fotografen, die genau wie alle anderen Besucher des Festivals an erster Stelle eines sind: Fans. Und so sah man an jeder Ecke des Festivalgeländes Menschen, die sich in die Arme fielen. Zu lange hatte man sich nicht mehr ‘in echt’ gesehen. Die Euroblast-Familie war wieder zu einer echten Einheit geworden und nicht mehr nur eine Gruppe in virtuellen Raum namens Internet.
Und so hatte man dann auch manchmal das Gefühl, dass es dem ein oder anderen egal war, wer da auf der Bühne der Essigfabrik auftreten würde. Hauptsache, man konnte wieder Musik live erleben und Menschen treffen, die man lange nicht mehr gesehen hatte. Selbst die recht kurzfristige Absage von Humanity’s Last Breath wurde in den einschlägigen Foren recht gelassen hingenommen. Und dass, obwohl man noch nicht einmal einen ebenbürtigen Ersatz als Co-Headliner finden konnte. Hypno5e rückten in der Running Order einfach einen Platz nach vorne und machten Raum für die neu verpflichteten Space Of Variations, die im Anschluss an den Opener Defocus auftreten sollten.
Leider büßte das Festival durch diese Line-up-Veränderung ein großes Maß an Abwechslungsreichtum ein, denn durch den Ausfall der schwedischen Extrem-Metaller und ihrer dystopischen Klangmonolithen standen auf einmal drei Gruppen auf dem Billing, die zumindest in Ansätzen alle dem Metalcore zuzuordnen sind. Ein Genre, das viele Prog-Fans wohl niemals zu ihrer Musikgattung dazurechnen würden. Lediglich Hypno5e schienen stilistisch nicht ganz zu den übrigen Formatioen passen zu wollen. Aber das war auch gut so, denn eigentlich ist es ja genau diese Abwechslung der unterschiedlichen Spielarten des Progs, die das Euroblast Festival so faszinierend machen.
Defocus
Der Auftakt des Abends gebührte der deutschen Newcomer-Band Defocus aus dem schwäbischen Aalen. Und schon das Outfit des Frontmannes Simon Müller – mit Goldkette, Wollmütze und Baggie-Pants – gab einen ersten Hinweis darauf, was das Publikum zu erwarten hatte. Nämlich einen Shouter in bester Hardcore-Tradition. Dazu brachialer Metalcore mit djentigen Gitarren (Jeffrey Uhlmann), viel Groove (Marcel ‚Bambam‘ Heberling am Bass und Jonas Mahler hinterm Schlagzeug) und immer wieder leicht post-rockig anmutenden Soundscapes und Instrumental-Passagen sowie sehr melodischen Clean-Vocal-Refrains.
Es war Musik, die beim Publikum eine Wirkung entfaltete, als habe die Band in ein Wespennest gestochen. Natürlich hätte bis zu einem gewissen Grad vermutlich beinahe jede Formation auf der Bühne stehen können, so ausgelaugt wirkte das Publikum nach anderthalb Euroblast-losen Jahren. Den Menschen hatte augenscheinlich die toxische Mischung aus Körpernähe, Ausdünstungen und blauen Flecken gefehlt, die ein Metal-Konzert so mit sich bringt. Doch ist wohl unbestreitbar, dass Defocus den größten Anteil am erfolgreichen Startschuss des Festivals hatten. Denn die Schwaben schafften es, vor allem auch durch das Auftreten ihres Frontmannes, das Publikum vom ersten Moment an anzusprechen und zu 100 Prozent mitzunehmen.
Und so entstanden schon nach kürzester Zeit die ersten Moshpits vor der Bühne, und das, obwohl nur ein Bruchteil des Publikums das im Juli 2021 erschienene Debüt-Album “In The Eye Of Death We Are All The Same” kennen dürften. Positiv anzumerken bleibt auch das politische Statement der Band, gegen Hass und für Toleranz, dass Sänger Simon Müller in seinen Ansagen immer wieder deutlich machte.
Und auch soundtechnisch konnten die Süddeutschen für Essigfabrik-Verhältnisse überzeugen, was nicht nur an der neuen Soundanlage liegen dürfte, mit der die Halle am Deutzer Hafen erst kürzlich ausgestattet worden ist, sondern auch an den Leuten hinterm Mischpult. Diese verwechselten Qualität nämlich Gott sei Dank nicht mit Lautstärke. Natürlich ist die Essigfabrik auch weiterhin keine Philharmonie, sondern bleibt eine ehemalige Industriehalle, deren Gegebenheiten für den ein oder anderen Tontechniker auch in Zukunft noch eine Herausfordeung sein dürfte.
Space Of Variations
Dass eine der beiden Wurzeln des Metalcore im Hardcore liegt, stellte die ukrainische Formation Space of Variations dann noch einmal ganz besonders unter Beweis. Vor allem Shouter Dima Kozhuhar würde man es sofort abnehmen, wenn er früher einmal in einer New Yorker East-Coast Hardcore Band gesungen hätte.
Leider konnte das aus Podolien stammende Quartett nicht ganz die Fußstapfen füllen, die die Absage von Humanity’s Last Breath hinterlassen hatte, doch Space of Variations waren für Jinjer wohl die naheliegende wähl als Ersatz-Support gewesen. Schließlich war die Band schon im letzten Jahr als Opener für Jinjer mit dabei gewesen. Und damals hatten sie ihren Job als Anheizer mehr als prima gemacht.
Dies funktionierte auch an diesem Abend wieder ausgezeichnet, denn die Ukrainer versetzten das Publikum schon nach kurzer Zeit in Rage. Denn mit Bodysurfing, Mosh Pits und einer Wall of Death bedankte sich das Publikum mit seinem kompletten Arsenal. Da störte es wohl auch die wenigsten, dass der Klargesang von Gitarrist Alex Zatserkovny heute etwas schüchtern und drucklos rüberkam. Ob Alex einen schlechten Tag erwischt hatte, oder ob die Abmischung nicht gestimmt hatte bleibt offen. Die kaum wahrnehmbaren Elektronik-Spielerein der Band sowie der dafür sehr fette Klang von Schlagzeuer Tima Kasatkin lassen da wohl eher das Letztere vermuten.
Nichtsdestotrotz lieferten Space of Variations dem Publikum genau das, wonach es verlangte hatte, ganz nach
dem Motto eines ihrer Lieder: We Came to ‚Fuck this Place Up‘!
Hypno5e
Nach zweimal einer halben Stunde Knüppel-Auf-Die-Fresse-Musik war es nun endlich Zeit für etwas sanftere Töne. Denn, obwohl auch Hypno5e durchaus dem Progressive Metal zugeordnet werden müssen, ergibt sich die Schwere ihres Sounds nicht etwa aus Härte, Geschwindigkeit und Brachialität, sondern vielmehr durch die bedrückende Atmosphäre, welche die Franzosen mit ihrem cinematischen Breitwandsound erzeugen.
Wer Hypno5e kennt, dem wird wohl klar sein, dass die ausgelassene Partystimmung, welche Defocus und Space of Variations erzeugt hatten, in dieser Form nicht aufrechterhalten werden konnte. Aber dies erwartete auch niemand von der Band aus Montpellier. Stattdessen ließ sich das Publikum auf die Filmscore-ähnlichen Sounds ein, die Doom, Gothic, Djent, Post Rock und untermalendes Black Metal-Gefauche miteinander verbinden.
Passend zur Musik gab es bei Hypno5e auch die erste Lightshow, des Abends, die diesem Namen auch gerecht wurde. Denn Licht und Sound bildeten bei den Franzosen zum ersten Mal so etwas wie eine harmonische Einheit. Hinzu kam der fast perfekt abgemischt Sound, welcher die beklemmende Atmosphäre des Bühnengeschehens nur noch unterstützte. Leider war der Auftritt des Quartetts mit 45 Minuten viel zu kurz, so dass Hypno5e nur zwei ihrer ausladenden Stücke spielen konnten, darunter das dreiteilige ‘A Dark Distant Source’ vom 2019er Albums Albums “A Distant (Dark) Source” sowie ‘East Shore: in Our Deaf Lands’.
Doch so ganz ließ sich auch die Euroblast-Familie beim Auftritt von Hypno5e das Feiern nicht verderben, denn groovy war die Musik der Franzosen auch trotz ihrer Langsamkeit. Und so so man die Menschen schwelgen und manchmal auch leicht swingen. Vor allem aber hörte man sie am Ende des Gigs lautstark applaudieren und jubeln. Denn Emmanuel Jessua, Jonathan Maurois, Gredin und Théo Begue hatte gerade die bravouröseste Darbietung des bisherigen Abends abgeliefert.
Jinjer
Schön, dass es den Auftritt von Hypno5e gab, denn ohne die besinnliche Verschnaufpause, hätte der ein oder andere den energiegeladenen Auftritt Jinjers wohl kaum mehr ausgehalten. So scheint das Quartett aus dem ostukrainischen Donezk von Jahr zu Jahr an Intensität zu gewinnen. Genau wie ein Hurricane, der seine Energie aus dem Meer gewinnt, über welches er hinwegzieht, scheinen Jinjer ihre Kraft von den Menschen zu beziehen, die sie über Jahre hinweg Abend für Abend abgefeiert haben.
Wenn man sich vor Augen führt, das Jinjer noch im 2016 als praktisch unbekannte Band nachmittags in der Elektroküche im Untergeschoss der Essigfabrik aufgetreten sind, dann kann man vielleicht halbwegs nachvollziehen, welche Entwicklung diese Gruppe in den letzten fünf Jahren mitgemacht hat. Es ist eine Geschichte, wie sie typischer nicht für das Euroblast sein könnte. Denn John Giulio Sprich und Daniel Schneider, die beiden Väter des Festivals, sind bekannt dafür, daran mitzuarbeiten, dass vielversprechende Newcomer, über die Jahre hinweg, vom Kellerliebling zum gefeierten Headliner auf der Hauptbühne aufsteigen. Es ist ein Slot, den sich Jinjer mehr als verdient haben. Das wusste auch das Publikum, denn ab Punkt Viertel vor Neun war vor den Toren der Halle praktisch niemand mehr anzutreffen. Und Jinjer lieferten ein wahres Brett ab.
Allen voran Tatiana Shmayluk, ihres Zeichens, Frontfrau, Sängerin, Growlerin und Rampensau vor dem Herrn. Denn die Ukrainerin wirkte auf der Bühne wie eine Diva. Eine Person die aufgrund ihrer Körpersprache, Mimik und Gestik eine Erotik ausstrahlt, die ihres gleichen sucht. Dabei agiert Tatiana Shmayluk hochprofessionell, denn jede Bewegung scheint bewusst und einstudiert, gleichzeitig aber auch natürlich aus ihr herauszukommen, so dass es ihr ein Leichtes ist, die Zuschauer um den kleinen Finger zu wickeln. Damit macht sie es ihren Kollegen Roman Ibramkhalilov (Gitarren), Eugene Abdukhanov (Bass) und Vlad Ulasevich (Schlagzeug) beileibe nicht einfach, denn die Sängerin wirkt wie ein Magnet auf die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Man muss sich schon fast dazu zwingen, auch die übrigen Musiker ins Auge zu fassen. Was empfehlenswert ist, denn was diese, allen voran Vlad Ulasevich abliefern, ist mindestens auf ebenbürtigen Niveau. Hinzu gesellte sich eine Lightshow, die vor allem durch die drei Viedopanele auf der Bühne bestimmt wurd und äußerst stimmungsreich und effektvoll wirkte.
Leider ist der Sound von Jinjer auch dieses Mal, genau wie beim Auftritt im vergangenen Jahr im Kölner Gebäude 9, komplett darauf ausgelegt, möglichst fett zu klingen. Zur Freude der Zuschauer, die hüpfen, springen, pogen oder die Musik einfach nur fühlen wollen. Zum Leidwesen jedoch jener, die Jinjer aufgrund der feinen Nuancen ihrer Studioalben lieben. Doch dies scheint nicht wirklich ein Soundproblem zu sein, sondern vielmehr das Setting, das die Musiker für sich gewählt haben.
Die Songauswahl an diesem Abend ist ausgewogen und verbindet alte Stücke mit Liedern des gerade erst erschienen Albums “Wallflower”. Es sind Stücke wie der Opener ‘Call Me a Symbol’ oder das Titelstück der Scheibe, die sich wunderbar in die List älterer Songs einfügen. So gut sogar, das man, aufgrund der fehlenden Nuancen, im hinteren Teil der Halle stehend, manchmal ein paar Momente braucht, um zu realisieren, welches Stück da eigentlich gerade läuft. Dem Publikum im vorderen Bereich der Halle scheint dies jedoch weniger schwer zu fallen, denn Stücke wie der vom 2016er “King of Everything” stammende Band-Klassiker ‘Speak Astronomy’ werden von den Fans lauthals mitgesungen. Und so wurden auch ein kurzes technisches Problem nicht zum Stolperstein für die Osteuropäer, sondern es schien für diese umso mehr Ansporn zu sein, es dem Publikum im Anschluss mit einem herausragenden ‘Teacher, Teacher’ erst recht zu zeigen.
Es war schön mit anzusehen, wie sich Band und Publikum gegenseitig immer weiter pushten, bis die Stimmung förmlich eskalierte. Doch irgendwann erklang dann ‘Home Back’ und danach war Schluss. Natürlich ließen es sich Jinjer an diesem Abend nicht nehmen nach kurzer Pause noch einmal für eine einzige Zugabe auf die Bühne zu kommen. Doch nach dem krönenden ‘Vortex’ strichen Jinjer dann endgütig die Segel und hinterließen ein größtenteils so ausgepowertes wie begeistertes Publikum.
Metal Afterparty
Viele der gekommenen Fans blieben auch nach dem Auftritt Jinjers noch in der Essigfabrik. Die einen, um bei der Metal Afterparty das Tanzbein zu schwingen, die anderen, um noch stundenlang mit alten und neugewonnenen Freunden zu quatschen und das ein oder andere Bierchen zu trinken. Alles andere wäre auch verwunderlich gewesen. Es war schließlich Euroblast, und die Leute waren nicht nur der wegenMusik gekommen, sondern vor allem auch wegen der “Familie”.
Text: flohfish
Live-Fotos: JacQue Photography
Setlists:
Defocus
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Konzertbericht: 23.11.19, Köln, Gebäude 9
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Rezension: “A Distant (Dark) Source” (2020)
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Rezension “Wallflowers” (2021)
Konzertbericht 23.11.19, Köln, Gebäude 9
Weitere Surftipps:
Euroblast Festival (Festival-Homepage + Veranstalter)
Essigfabrik (Venue)
2 Kommentare
Hey Floh,
wirklich gelungener Artikel dieses tollen Tages!
Den Klargesang bei Space Of Variations fand ich persönlich tatsächlich richtig cool. Gerade weil so schnörkellos und melodios als guter Kontrast und schöne Abwechslung zum Frontmann.
Ansonsten teile ich deine Einschätzungen. Super geschrieben!
Rock on! Seb.
Hi Sebastian.
Danke für das Feedback.
Ich habe nur die Erinnerungen zum Konzert vor einem Jahr im Gebäude 9 zum Vergleich, und da klang der gute Herr, zumindest für meine Ohren, um Weiten besser.
Aber so ein Bericht ist natürlich in immer nur ein persönlicher Eindruck. Spaß gemacht hat es allemal!