(79:30, CD, digital, Eigenproduktion/Just for Kicks, 2021)
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde an dieser Stelle ein Newcomer namens The Ancestry Program bejubelt. Nur ein Jahr später nun nicht etwa das zweite Album dieser Formation, sondern ein nach dem Hauptprotagonisten benanntes Soloprojekt: Lind. Mastermind Andy Lind ist dabei nicht nur am Schlagzeug zu hören, sondern bedient auch Bass und Tasteninstrumente, mischt Programmiertes bei, singt, hat sämtliche Songs komponiert, produziert und abgemischt, sowie das feine Cover Artwork zusammen mit Jan Lehner gestaltet. Nach dem 2007 veröffentlichten „Profoundly Found Reality“ nun also das zweite Album unter diesem Namen. Und wie schon bei TAP lässt man sich nicht lumpen in Sachen Spielzeit, mit knapp 80 Minuten wird die Kapazität ausgereizt. Verteilt wird dies auf neun Songs mit Spielzeiten zwischen sechs und zwölf Minuten.
Unterstützt wird Lind dabei von einigen bekannten Größen, wie die nachfolgende Auflistung zeigt. An den Gitarren (Originalton im Booklet: „Gitz“) sind dies Martin Kursawe, Jan Zehrfeld (Panzerballett), Rüdiger Eisenhauer, Martin Vogelgsang, Martin Mayrhofer sowie Wolfgang Zenk (Sieges Even, 7for4). An den Tasteninstrumenten solieren Oliver Hahn, Jann Eschke und Jan Lehner. Den Lead-Gesang teilen sich Petra Schiesser, Marie Brandis und Ben Knabe. Auf ‚Displaced and Criticized‘ kommt gar Rap-Gesang von Mirko Werler hinzu. Last but not least bringt Axel Kühn an Saxophon und Bassklarinette noch eine besondere Note ins Spiel.
Wer seinen Prog gemütlich und ruhig mag, der liegt mit diesem Album vollkommen falsch, denn hier wird dem Hörer beinahe ohne jede Verschnaufpause eine enorm wuchtige, aggressive, explosive Mischung diverser Stilarten um die Ohren gefegt. Ihr Progressive Rock ist eher eine Art Aggressive Rock, bei dem Avant Prog mit Metal, Math Rock und Jazz-Rock vermischt wird. Von den Gesangsparts bleibt auch nach einigen Durchläufen kaum etwas hängen, jedoch wird man von facettenreichen, teils sehr wuchtigen und extrem flinken Instrumentalparts gefordert. Und bei den Avant-Prog-Parts ziehen sie ihre Nummern ohne Rücksicht auf Verluste konsequent durch, das ist schon starker Tobak. Wer aber genau diese Herausforderungen als Hörer sucht und sich in diesem musikalischen Umfeld wohl fühlt, wird bestens versorgt und freut sich über den Untertitel des Albums, denn der lautet „The Justification of Reality Part I“. Ein zweiter Teil soll also folgen, die Veröffentlichung ist für 2022 angedacht.
Das Album startet gleich mit dem längsten Song, dem knapp 12-minütigen ‚Do I Really Notice‘. Und man nimmt wirklich schnell zur Kenntnis, dass es hier sehr komplex und anspruchsvoll zur Sache geht – und das auf Albumlänge. Da gibt es keine Balladen, die zumindest mal kurzfristig für Entspannung sorgen. Nein, hier ist durchweg volle Pulle angesagt. Dabei zeigt ein Song wie das neun-minütige ‚The Schemes‘, dass in derartige Musik auch mal Referenzen an Gentle Giant eingebaut werden können, ohne dass dies unpassend wirkt. Nicht nur hier überzeugt eine einflussreiche Perkussionsarbeit. Wer nach 80 Minuten immer noch nicht genug hat, sei auf die Bandcamp Seite verwiesen, denn dort gibt es noch einen 6 ½ minütigen Bonus-Track namens ‚Banged in the Panic Room‘.
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Vieles, was hier zu lesen ist, traf auch auf das Debütalbum von The Ancestry Program zu, doch Letztere waren insgesamt dann doch eine Spur harmonischer unterwegs. Auf dem vorliegenden Album hingegen gehen die Gesangsmelodien kaum ins Ohr und der Aggressivitätsgrad ist noch etwas höher angesetzt. Bei aller offensichtlichen musikalischen Kompetenz ist dies für den Rezensenten ausschlaggebend, in der Bewertung diesmal etwas zurückhaltender zu sein. Doch ist das gewiss keine Kritik an der Qualität der beteiligten Musiker. Für Freunde einer explosiven Form von Avant-Prog-Metal ist „A Hundred Years“ sicherlich eine Bereicherung der Sammlung.
Bewertung: 10/15 Punkten (JM 10, KR 11)
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Abbildungen: Lind