(74:51, CD/DVD, MiG, 2005/2021)
Wer sich auch nur ein wenig mit der deutschen Prog-Geschichte beschäftigt, stößt früher oder später unweigerlich auch auf das fantastische, 1978 erschienene Live-Doppelalbum “Traumstadt” der Wuppertaler Hoelderlin. Ursprünglich dem folkigen Krautrock entstammend, entwickelte sich die Band im Laufe der Siebziger immer mehr zu einer höchst interessanten, violinengetriebenen Mixtur aus King Crimson zur Wetton-Ära (weniger schräg, versteht sich) und Genesis zu “The Lamb”-Zeiten. Kurz: Hoelderlin waren vielleicht nicht so erfolgreich wie Eloy und Grobschnitt, ihren festen Platz im Teutonen-Prog-Himmel haben sie aber auf alle Zeiten sicher.
Anlässlich eines Rockpalast-Festivals, reformierte Drummer Michael Bruchmann die Band 2005 – nach fünfundzwanzigjähriger Bühnenpause. Mit Bassist Hans Bäär stand noch ein weiteres Ex-Mitglied auf der Bühne, ansonsten scharte Bruchmann lauter neue Gesichter um sich. Das ist im Falle reformierter Siebziger-Bands nichts Besonderes und aufgrund der Tatsache, dass Gründungsmitglied Christoph Noppeney (Violine und Gesang) der Band erst eine Woche vor Aufzeichnung des Gigs mitteilte, nun doch nicht zur Verfügung zu stehen, in diesem Fall auch kaum vermeidlich.
Die Setlist des Gigs dürfte die meisten Fans der Band zufriedenstellen: ausschließlich Songs der ersten fünf Alben werden hier dargeboten, die späteren Versuche, sich mit eher mittelmäßigen Songs als Westcoast-Combo zu präsentieren, bleiben hier außen vor. Für einiges Aufsehen sorgt hingehen die Entscheidung, die Songs ein gutes Stück weit umzuarrangieren und mit elektronischen Drumloops, sowie knackigen Alternative-Gitarren (beide von Dirk Schilling bedient) aufzuhübschen. Das geht ein Stück weit auf Kosten des nostalgischen Hoelderlin-Flairs, führt aber überraschenderweise dazu, dass die Band plötzlich kein Stück mehr altmodisch klingt und durchaus den Vergleich mit der damals gerade die Szene stürmende Welle an New-Artrock-Bands im Fahrwasser von Porcupine Tree und vor allem den späten The Gathering nahelegt. Die Leichtigkeit, mit der sich das Material in die Neuzeit überträgt, spricht fraglos für die zeitlose Klasse der über dreißig Jahre alten Songs.
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Leider liegt das größte Problem von Hoelderlin 2005 genau da, wo es auch schon zwischen 1972 und 1978 lag – genaugenommen da, wo es bei fast allen deutschen Proggern lag und immer noch liegt: dem Gesang. Ann-Yi Eötvös wirkt zwar supersympathisch und auf ihre beinahe kindlich wirkende Art zuckersüß, aber auch reichlich nervös und liegt, man muss es leider so hart sagen, ziemlich oft ein Stück neben dem richtigen Ton. Klar, aufgrund der Absage von Noppy Noppeney hatte die Dame nur zwei Proben mit der Band, es sei ihr also definitiv verziehen. Ohne Frage hätte mehr Routine hier auch zu einem besseren Ergebnis geführt. Der Unterhaltungsfaktor nimmt aber leider doch einen gewissen Schaden und man wünscht sich gelegentlich doch eine selbstsicherere Performerin wie Anneke Van Giersbergen, Christina Booth oder Kim Seviour.
Hoelderlin hatten also 2005 durchaus die Weichen für einen zumindest kreativ erfolgreichen Neustart gestellt. Leider war nach dem 2008 beim Majorlabel EMI erscheinenden Studioalbum “8”, das sich ziemlich komplett vom alten Hoelderlin-Sound entfernte und mehr in modernen Erwachsenen-Pop-Wassern fischte, auch bald schon wieder Schluss. Der Rockpalast-typisch in exzellenter Qualität festgehaltene Livemitschnitt macht jedenfalls ein wenig traurig, dass die Band nicht ein wenig nachhaltiger an den hier gebotenen Visionen einer gleichermaßen traditionsbewussten, als auch nach wie vor aktuell relevanten Zukunft festgehalten hat. Aber, wer weiß, 16 Jahre sind nach diesem Reunion-Konzert bereits verstrichen, vielleicht gibt’s ja 2030 überraschenderweise das nächste Hoelderlin-Comeback?
Bewertung: 11/15 Punkte
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