(52:34, Digital, Vinyl, CD, MC, Boxset Spinefarm Records, 2020)
Sieben Jahre ist es mittlerweile her, dass Protest The Hero mit “Volition” ihr letztes reguläres Studioalbum veröffentlicht haben. Es waren sieben unruhige Jahre für die Band aus dem kanadischen Whitby, da diese nicht nur lange ohne Plattenlabel dastand, sondern vor allem auch, weil die beiden Gründungsmitglieder Arif Mirabdolbaghi (Bass) und Moe Carlson (Schlagzeug) die Gruppe verließen. Während Mike Ieradi als neuer Schlagzeuger verpflichtet werden konnte, blieb der Posten am Bass bis heute unbesetzt. Zwar konnte man im Jahre 2016 über Bandcamp eine EP namens “Pacific Myth” veröffentlichen, doch wurde man kurz darauf schon wieder aus der Bahn geworfen. Sänger Rody Walker hatte mit erheblichen stimmlichen Problemen zu kämpfen, so dass die für Sommer 2018 geplante Tour durch Japan und Europa abgesagt werden musste. Rody Walker musste sich einer Stimmband-Operation unterziehen und seine Stimme neu trainieren.
Im August diesen Jahres ist mit “Palimpsest” nun endlich das fünfte vollwertige Studioalbum der Ontarianer veröffentlicht worden. “Palimpsest” ist vor allem die glorreiche Rückkehr von Frontmann Rody Walker, denn dieser hat mit seiner Sangesleistung nicht nur zu alter Stärke zurückgefunden, sondern er konnte darüber hinaus seine gesanglichen Fähigkeiten durch hartes Training hörbar erweitern: seine Stimme klingt, verglichen mit früheren Alben, nicht nur voller und resonanter, sondern vor allem in hohen Tonlagen auch um Weiten natürlicher.
Walker ist es auch, der sich seit dem Weggang von Arif Mirabdolbaghi für die Texte der Band verantwortlich zeigt. Man merkt den einzelnen Liedern an, dass die Lyrics aus der Feder des Sängers stammen, denn sie scheinen mit reichlich Herzblut vorgetragen zu sein. Thematisch beschäftigt man sich in den Texten mit verschiedenen Episoden der US-amerikanischen Geschichte. Während ‘The Canary’ beispielsweise von der Frauenrechtlerin und Flugpionierin Amelia Earhart und ihrem kanariengelben Doppeldecker handelt (mit dem sie als erste Frau solo den Atlantischen Ozean überquerte), geht es bei ‘From The Sky’ um den Absturz des deutschen Luftschiffes Hindenburg im US-amerikanischen Lakehurst. Beide Geschichten haben sich zu nationalen Legenden der USA entwickelt, in denen historische Fakten über die Jahrzehnte immer weiter verwässert und verfälscht worden sind – Waren da nicht Hakenkreuze auf den Höhenrudern des Zeppelins? Wie auch die weiteren Texte sollen diese Lieder exemplarisch für die Angewohnheit der US-Amerikaner stehen, Geschichte in ihrem Sinne umzuschreiben und zu schönen. So bezeichnet denn auch das eher selten gebräuchliche Wort Palimpsest eine beschriebene Manuskriptseite , welche durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben worden ist.
Musikalisch ist bei Protest The Hero vieles beim Alten geblieben. Noch immer spielen die fünf Nordamerikaner ihren hyperaktiven Progressive Metal, der tief in Punk und Hardcore verwurzelt ist. Zwar fallen vor allem Luke Hoskin und Tim Millar noch immer durch ihr hochgradig verfrickeltes Gitarrenspiel auf, das sie teilweise wie zwei überdrehte Duracell-Häschen wirken lässt. Doch scheinen vor allem die komplexen Parts durchdachter als je zuvor. Fast könnte man denken, als seien die Musiker mit Methylphenidat medikamentiert wurden, denn “Palimpsest” wirkt weniger chaotisch und besser durchkomponiert als seine Vorgänger. Dementsprechend weist es viel Liebe fürs Detail auf. Obwohl schon immer für seine Melodiosität bekannt, haben auch die Refrains der Gruppe ein neues Level an Eingängigkeit erreicht. Lieder wie ‘All Hands’ und ‘Rivet’ gewinnen schon nach wenigen Durchgängen einen Mitgröhl-Effekt, wie man ihn sonst eher vom Skater-Punk der 90er kennt. Trotz aller Ohrwurmmelodien ist “Palimpsest” natürlich alles andere als ein Popalbum, denn dafür ist es viel zu kompliziert. Eingängigkeit und Komplexität existieren jederzeit in zwei parallelen Schichten nebeneinander her. Dabei stehen sie in einem Wechselspiel aus Harmonie und Spannung und halten sich so in der Waage.
Schon ‘The Migrant Mother’ ist ein starker Einstieg, der nach einem zurückhaltenden Intro durch Mike Ieradis galoppierendes Schlagzeugspiel abgelöst wird und im weiteren vor allem durch Rody Walkers charakteristischen Gesang besticht. Thematisch behandelt der Song die Geschichte der zehnfachen Mutter Florence Owens Thompson, welche 1936 auf einer berühmten Schwarz-Weiß-Fotografie von Dorothea Lange verewigt worden ist. Genau wie fast 90.000 weitere Menschen war sie während der Großen Depression im sogenannten Dust Bowl Exodus nach Kalifornien ausgewandert. Das Foto wurde zur Ikone, doch das Schicksal der Familienmitglieder wurde niemals wirklich beleuchtet.
Das zuvor schon erwähnte ‘The Canary’ war die erste Single des Albums und ist ein perfektes Beispiel für die oben beschriebene Dualität von Komplexität und Eingängigkeit. Während im Hintergrund ein wahres Gitarrenmassaker stattfindet, stehen doch allzeit die eingängigen Gesangsmelodien und der fette Groove (Todd Kowalski von den kanadischen Punk Rockern Propaghandi am Bass) im Mittelpunkt des Liedes, ohne dass sie jemals von den technischen Gitarrenläufen gestört würden.
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Auch die zweite Single ‘From The Sky’ ist ein wahres Groove-Monster, was vor allem Tour- und Aushilfs-Bassisten Cam McLellan zu verdanken ist. Hinzu gesellen sich messerscharfe Gitarrenriffs, fast symphonische Klänge, und Rody Walkers eingängige Stimme. Nach knapp drei Minuten geht das Stück in ein wundervolles Piaono-Voice-Interlude über, bevor es in einem überragenden Crescendo kulminiert, so dass sich der Sänger am Ende fast mit seiner Stimme überschlägt. Es ist großes musikalisches Drama, welches den Flammentod der Hindenburg akustisch perfekt nachempfindet.
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‘Harborside’ ist dann das erste von insgesamt drei Zwischenspielen, die allesamt von modernen Klassik-Alben stammen könnten.
Das nun folgende ‘All Hands’ ist eines der kontrastreichsten Lieder des Albums, da hier klebrige Popmelodien und Streicher nicht nur auf geshreddete Gitarren sondern auch zum ersten Mal auf vereinzelte Growls stoßen. Apropos klebrig: das Lied handelt von der Großen Melasseflut, bei der sich im Boston des Jahres 1919 8.700 m³ Zuckersirup aus einem geborstenen Tank durch die Straßen der Stadt ergossen und 21 Menschen in den Tod rissen.
‘The Fireside’ ist dann ein Kracher in thrashiger Hardcoremanier mit hymnenhaftem Refrain und immer wieder stakkatoartigem Gesang. Thema sind hier die sogenannten Fireside Chats, Radioansprachen von U.S. Präsident Franklin D. Roosevelt während der Großen Depression.
Das anschließende ‘Soliloquy’ macht im gleichen Tempo weiter und bringt den gutturalen Gesang als Kontrast zu den eingängigen cleanen Gesangslinien zurück ins Spiel, bevor das Lied mit theatralischem Power-Metal-Gesang zu Ende geht. Inhaltlich geht es hier um die Geschichte des Bankräubers “Baby Face” Nelson aka Lester Gillis, dem Partner von John Dillinger, dem ehemaligen Staatsfeind Nr. 1. (Dillinger Escape Plan anyone???)
Dessen Geschichte und jene der US-amerikanischen For-Profit-Gefängnisse ist Mittelpunkt des anschließenden ‘Reverie’. Der Song beginnt mit Streichern und kehrt zurück zu eher theatralischen Klängen, die teilweise an Musical-Sounds erinnern. Herausragend bei diesem Song ist aber vor allem das Slapping von Aushilfsbassist McLellan.
‘Little Snakes’ gehört wohl zu den fesselndsten Stücken auf ‘Palimpsest’, was nicht nur am Text liegt, (der sich mit dem Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas beschäftigt,) sondern auch an seinem dramatischen Arrangement.
‘Gardenias’ wird eingerahmt von den beiden weitern, schon oben erwähnten Klassik-Interludes namens ‘Hillside’ und ‘Mountainside’. Es ist ein schöner Kontrast, denn ‘Gardenias’ ist mit seinen aggressiven Gitarrenriffs seiner Polyrhythmik sowie seinen Growls und Screams ohne Zweifel das härteste Lied der ganzen Platte. Irgendwie passend, denn im Mittelpunkt des Stückes steht die traurige Geschichte von Millicent Lilian “Peg” Entwistle, jener Schauspielerin, die nicht durch ihre Filme, sondern durch ihren suizidalen Sprung vom Hollywoodland-Schriftzug in Los Angeles Berühmtheit erlangte.
Dass Protest The Hero nicht nur todernst und traurig können, zeigen sie bei ‘Rivet’, dem letzten Stück der Platte, bei welchem punkige Bubble-Gum-Melodien und Hardcore-Shouts auf Math Core-Riffing treffen. Hätte man in der Grundschule des Progressive Rock nicht gelernt, dass Prog und Punk natürliche Erzfeinde sind und nicht zusammenpassen, so könnte man denken, dass es sich hier um Progressive Punk handelt. Dass dieses Stück musikalisch in eine etwas andere Kerbe schlägt und im Ganzen positiver ausfällt als die restlichen Songs der Scheibe ist kaum verwunderlich, da sein Text der einzige auf der Platte ist, der die wahren Errungenschaften der Amerikaner aufzeigt. Solche, wie beispielsweise den Aufbau des Eisenbahnnetzwerkes, solche, auf die man stolz sein kann, ohne dabei einem toxischen Nationalismus zu verfallen. ‘Let’s make America great again’ als Antwort auf die Politik der letzten Jahre. ‘Let’s make America great again. Land of innovation, land of common sense.’
“Palimpsest” ist alles in allem ein Potpourri verschiedener Musikstile geworden, welches stilistisch seine eigene Nische besetzt. Protest The Hero setzen dabei auf eine musikalische Vielfalt, welche so verschiedene Stile wie Progressive Metal, Classic Rock, Musical, Punk Rock, Hardcore, Math Rock und klassische Elemente miteinander verbindet. Seine Teilaspekte sollten Freunde großer Melodien genauso ansprechen wie Liebhaber technisch hochkomplexer Songstrukturen. Die Verbindung beider Anteile wird für viele Musikfreunde jedoch eine Herausforderung darstellen. Doch keine Angst, die Mühe lohnt sich!
Bewertung: 14/15 Punkten (FF 14, MK 14)
Tracklist:
1. The Migrant Mother (3:50)
2. The Canary (4:27)
3. From The Sky (6:14)
4. Harborside (1:01)
5. All Hands (4:40)
6. The Fireside (5:03)
7. Soliloquy (4:30)
8. Reverie (5:26)
9. Little Snakes (4:56)
10. Mountainside (1:11)
11. Gardenias (4:57)
12. Hillside (0:39)
13. Rivet (5:35)
Besetzung:
Rody Walker (Gesang)
Luke Hoskin (Gitarre)
Tim Millar (Gitarre, Piano)
Mike Ieradi (Schlagzeug)
Cam McLellan (Bass)
Gastmusiker:
Todd Kowalski (Bass – Track 2)
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